Léonor de Récondo: Amours

Bei all der jüngsten Gegenwartsliteratur kann man schon schnell mal vergessen, wie schön es eigentlich ist, aus Romanen auch etwas über vergangene Zeiten zu erfahren. Der bereits vierte Roman der französischen Autorin Léonor de Récondo bewies mir genau das. Amours (Dörlemann) spielt Anfang des 20. Jahrhunderts und erzählt von einem der größten Tabus der damaligen Zeit.

Léonor de Récondo: Amours

Es ist 1908 und wir befinden uns in einem kleinen französischen Ort namens Saint Ferreux. Hier lebt der Anwalt Anselme Boisvaillant zusammen mit seiner Frau Victoire und den Angestellten Céleste, Huguette und Pierre auf einem stattlichen Anwesen. So weit, so idyllisch. Doch der äußere Schein trügt. Die Ehe der Boisvaillants ist eine arrangierte und zudem sehr unglückliche. Vor allem Victoire kann für ihren Mann keine Liebe empfinden, auch wenn sie es zwecks Erfüllung gesellschaftlicher Konventionen gern würde.

Victoire erschaudert. Das Wort „Liebe“ klingt aus seinem Munde unglaubwürdig, der Bedeutung beraubt. Von was genau spricht er? Und plötzlich schwört sie sich, Anselme mehr zu lieben, sich dazu zu zwingen.

Bei allem „guten“ Vorhaben klappt diese erzwungene Liebe einfach nicht. Beide schlafen nicht einmal im selben Zimmer, weil Victoire das nicht möchte. Nun hat der Herr des Hauses aber seine „Bedürfnisse“, weshalb er sich regelmäßig des Nachts ins Zimmer von der knapp 17-jährigen Céleste schleicht und sie dort auf’s Widerlichste vergewaltigt. Der Roman beginnt übrigens auch mit einer dieser Vergewaltigungen, ein schockierender wie fesselnder Einstieg.

Auch Victoire wird von Anselme von Zeit zu Zeit „bestiegen“, aber eine sehnsüchtig erwartete Schwangerschaft soll sich einfach nicht einstellen. So ist es zunächst ein großer Skandal, als das Dienstmädchen Céleste schwanger wird und insgeheim alle wissen, wer der Vater sein muss. Nur einer freut sich: Anselme. Hier wird einmal mehr deutlich, welch skrupelloser und gewissenloser Mensch der feine Hausherr ist.

Kein Gedanke an Céleste, kein Gedanke daran, wie brutal er sie geschwängert hat. Kein Zweifel, dass er der Vater ist. Nein, er suhlt sich in absoluter Zufriedenheit.

Victoire pocht zuerst auf eine Abtreibung. Doch als sich herausstellt, dass es dafür schon längst zu spät ist, sieht auch sie ihren Vorteil in der ungewollten Schwangerschaft. Es wird ein Komplott geschmiedet. Céleste soll das Baby bekommen, ausgegeben wird es aber als Victoires und Anselmes gemeinsames Kind.

Nun ist es aber so, dass Victoire mit dem kleinen Säugling nicht zurecht kommt. Sie kann keine Muttergefühle entwickeln, hat Angst vor dem Kind. Der kleine Adrien verliert zunehmend an Gewicht. Céleste beobachtet dies und muss als leibliche Mutter eines Nachts eingreifen, indem sie das Baby zu sich holt und es stillt sowie mit Mutterwärme aufpäppelt. Nacht für Nacht schreitet Céleste auf diese Weise ein und rettet damit Adrien.

Als Victoire das Dienstmädchen schließlich bei ihren nächtlichen „Entführungen“ erwischt, ist sie nicht erbost. Vielmehr ist sie fasziniert vom Anblick der nackten, stillenden Céleste, sodass Victoire sich an sie schmiegt und alle drei die Nacht zusammen in Célestes Zimmer verbringen. Diese Situation wiederholt sich stetig, bis sich zwischen der Hausherrin und dem Dienstmädchen eine Liebesbeziehung entspinnt.

Sie lieben sich, sie schlafen miteinander und zum ersten Mal fühlen sich beide attraktiv und als komplette Frauen. Während sie ihre Körper gegenseitig entdecken, finden sie auch jeweils ein ganz neues, positives Verhältnis zu ihren eigenen Körpern.

Indem Victoire jeden Abend Céleste liebt und von ihr wie besessen wiedergeliebt wird, beginnt sie ihren eigenen Körper, den sie für unnütz gehalten hat, zu lieben.

Während Céleste und Victoire von einer gemeinsamen Zukunft träumen, ziehen schon dunkle Wolken über der frischen Beziehung auf. Wir befinden uns eben immer noch im Jahre 1908, als die christliche Religion noch unverhältnismäßig hochgehängt wurde.

Amours gibt intime Einblicke in ein scheinbar ehrenwertes Haus einer vergangenen Zeit. Der sprachliche Stil ist meistens nüchtern und sehr klar, nichts wird beschönigt. Nur in den romantischen Szenen zwischen Céleste und Victoire wird der Erzählton ausschweifender und fängt so perfekt das leidenschaftliche Verhältnis beider ein. Dieses sprachlich hohe Niveau ist wahrscheinlich auch der sehr guten Übersetzung durch Isabel Kupski zu verdanken.

Nicht nur sprachlich ist Amours ein Genuss. Mich haben besonders die beiden Frauenfiguren in diesem Roman beeindruckt. Sie sind beide sehr stark auf ihre ganz eigenen Weisen und gleichzeitig fühlen sie sich eingeschlossen in ihren Leben. Das hat mich positiv an Anna Karenina oder Emma Bovary erinnert. Im europäischen Realismus war es oft der Ehebruch, der den Frauen ein besseres Lebensgefühl und ein bisschen Freiheit verschaffte.

In Amours ist es neben dem Ehebruch auch das Aufbrechen heteronormativer Konventionen und Normen. Nur dadurch gelingt es Céleste und Victoire, sich selbst und andere zu lieben. Léonor de Récondo geht somit noch einen Schritt weiter als die Realisten von damals. Amours ist ein fortschrittliches Werk, das sich mit Leichtigkeit auf unsere derzeitige Gegenwart übertragen lässt und durchaus feministische Züge trägt. Wem also Anna Karenina und Effi Briest zu verstaubt vorkommen, der greife bitte unbedingt zu Amours!

Léonor de Récondo: Amours

Léonor de Récondo

Amours
übersetzt aus dem Französischen von Isabel Kupski

Dörlemann

238 Seiten | 20,- €

am 16. August 2017 erschienen

5 Kommentare

  1. Habe das Buch auch sehr gern gelesen, dieses Erlebnis bisher aber einfach nicht in Worte fassen können. Ich fragte mich – was erzählt man, was lässt man besser weg, um noch eine Neugier auf das Buch zu wecken? Dir ist das super gelungen. Deine Besprechung ist ganz wundervoll!

    • Oh, das ist aber ein großes Kompliment. Vielen Dank, liebe Jacqueline!
      Ich muss zugeben, dass „Amours“ eines der Bücher war, bei dem ich mich relativ leicht getan habe mit der Rezension. Nach ein paar Seiten hat mich der Roman schon so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich ab da wusste, was ich so schreiben werde in der Besprechung. Allerdings musste ich mich auch zügeln bei der Inhaltsangabe. Da stimme ich dir zu, das ist bei diesem Titel ein bisschen schwierig. Zwar habe ich das große Tabu verraten, aber ich denke, es ist trotzdem spannend für die Leser*innen, wie es mit den beiden Frauen im Roman weitergeht.
      Aber schön, dass dir das Buch auch so gut gefallen hat, ich bin auch immer noch ganz begeistert.

      • Liebe Juliane,
        das Tabu zu verraten ist doch okay! Nur so wurde ich überhaupt neugierig, als ich das erste Mal von dem Roman hörte. Solange der Schluss nicht verraten wird, ist alles gut! Vielleicht schreibe ich ja doch noch was. Du hast mich jetzt irgendwie motiviert 🙂

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