Enno Stahl: Spätkirmes

In Spätkirmes von Enno Stahl (Verbrecher Verlag) erleben die Leser*innen ein rheinisches Dorf im jährlichen Ausnahmezustand. Diesmal jedoch nicht Karneval, sondern Kirmes. Für mich eine Reise in die Vergangenheit, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie mir in verschiedener Hinsicht so nah gehen würde.

Enno Stahl: Spätkirmes

Meta und Hannes sind ein paar Ende 30/Anfang 40 mit einer kleinen Tochter, Cora. Er Juniorprofessor ohne gute Aussichten auf Verlängerung, sie Hausfrau und gelegentliche Kunstpädagogin. Sie haben durchaus schon glücklichere Zeiten erlebt. Jede*r für sich ebenso wie sie beide als Paar. Egal wie schön ein einzelner Moment sein kann, ein Streit lauert hinter jeder Ecke, hinter jedem falschen Wort.

Doch es war mal besser. Vielleicht bevor Cora geboren wurde und die beiden mehr Zeit für sich hatten, vielleicht auch noch mehr, als sie beide noch in der Stadt wohnten, in Düsseldorf. Am kulturellen Leben der Stadt teilnahmen, Freunde hatten, beide ein eigenes Leben. Doch mit dem Kind kam auch der Wunsch nach mehr Ruhe, mehr Platz, mehr Natur. Weniger Autos, weniger verdächtige Menschen, weniger Gefahr.

Dann also Kirchweiler. Nicht weit weg von der Stadt, kaum eine halbe Stunde ist es bis nach Düsseldorf, kaum länger nach Köln, nach Aachen, ins Ruhrgebiet. Doch wann sollte eine solche Fahrt mal drin sein? Allein Hannes fährt zur Arbeit raus in die Stadt, Meta igelt sich im Dorf ein, wird – ganz im Gegensatz zu Hannes – mit der Dorfgemeinschaft langsam warm. Auch weil sie aus der Gegend kommt und sie langsam aber sicher wieder lieb gewinnt. Und dann kommt die Kirmes, kommen Bier, Tanz und Schnaps in das Dorf, und all das befreit nicht nur Fröhlichkeit in den Einwohnern.

In Spätkirmes arbeitet Enno Stahl mit einer bis auf die Spitze getriebenen Point-of-View-Technik, die sich für lange Strecken so tief in einzelne Figuren und deren Gedanken versenkt, dass man bisweilen vergisst, dass es noch einen äußeren Erzähler gibt. Anfangs hat mich diese Technik etwas abgeschreckt, ich war von den manchmal schnell wechselnden, dann wieder lange verfolgten Fokus-Personen ein wenig überfordert. Aber schnell gewöhnte ich mich daran, und dann entfaltete das Buch einen wirklichen Sog.

Dieser ist für mich ein ganz besonderer. Denn der fiktive Ort Kirchweiler wird von Stahl sehr genau verortet. Und zwar ziemlich genau 10 km neben dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Spätkirmes fängt sehr schön die Atmosphäre ein, die die Gegend ausmacht. Die zerstörte Natur des Landstrichs, die durch extensive Landwirtschaft und Tagebauten zur Braunkohleförderung entstellt ist. Aber auch die einzelnen erhaltenen oder wiederhergestellten Ecken, die durchaus eine raue Schönheit haben. Dann natürlich die Kirmes – oder das Schützenfest, wie es in meinem Heimatdorf heißt – bei der das ganze Dorf in einem betrunkenen Taumel driftet, unter dem riesigen Kreuz der katholischen Kirche. Und der Dialekt.

»Sagt mal, was ganz anderes … Mein Mann hat mir erzählt, heute Nacht, als er mit dem Hund raus war, bei Dreeßens soll’n sie Nazilieder gesungen haben?! Habt ihr auch was davon gehört?«
»Was? Nee. Wir haben alle Fenster zu gehabt. Nix gehört. Echt jetzt?«
»Ja, Hannes war sich ganz sicher. Adolf Hitler, unser Führer, und so ’n Scheiß!«
»Ach, dat musse nich’ so ernstnehmen. So manche Züje, da sinn’ no’ die Alten dabei, die singen da ma’ so. Aber dat heißt nix.«
»Das finde ich aber schon! Das geht nicht, das ist Volksverhetzung!«
»Da hat dat Meta Rescht. Isch kann dat auch nit ab. Wenn da wirklisch wat war, da könn’ die froh sein, da tisch dat nit jehört hab’.«

Gerade der Dialekt und wie treffend Stahl ihn wiedergibt, hat mich an diesem Buch in einer Weise bewegt, die ich nicht erwartet hatte. Denn was verbindet mich noch mit dieser Gegend, abgesehen von meinen Eltern und den Verwandten? Ich dachte immer nichts. Zu lange bin ich weg, zu wenig habe ich es jemals vermisst. Und doch rührt mich der Dialekt zusammen mit den typischen Sprichwörtern und Floskeln. Die kölsch-plattdeutsche Melodie nimmt in Spätkirmes – zumindest für diejenigen, die sie kennen – eine starke Nebenrolle hinter der traurig-wehmütigen Geschichte von Meta und Hannes ein. Sie versteckt sich in der schmetternden Blasmusik der Kirmes, grölt aus den besoffenen Kehlen der Dorfbewohner, keift aus den Mündern der von Armut, Verwahrlosung und Langeweile heimgesuchten Jugendlichen Jeanette und Mandy. Und aus Bob, dem Jugendlichen, dessen Behinderung vor allem seine arbeitslosen Eltern vor unlösbare Probleme stellt.

So erzeugt Spätkirmes das vielstimmige Panorama eines Dorfes, wie ich es nur zu gut kenne. Es hat mich zurückgeführt in meine Jugend, an Orte, die ich schon vergessen geglaubt hatte. Der Roman lässt tief blicken, in die Seelen der Dorfjugend, der Dorfalten, der Zugezogenen, der Kinder, und in ein Paar, das dem Ende nah ist. In kleinen Natur- und Geschichtsexkursen erkundet es dazu den Landstrich und seine Eigenheiten, inklusive einer sehr schönen sprachwissenschaftlichen Analyse des Dialekts.

Enno Stahl: Spätkirmes CoverEnno Stahl

Spätkirmes

Verbrecher Verlag

224 S. | 18,– Euro

Erschienen im April 2017

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Ich komme aus dem Randgebiet Bonns und wollte mit dem Dialekt nichts zu tun haben – als ich noch dort gelebt habe. Als ich nach Berlin gezogen war, habe ich dann langsam gemerkt, dass ich die Art, wie die Menschen (auch einander fremde Menschen) im Rheinland miteinander reden, wenn auch vielleicht nicht direkt vermisse, so doch liebevoll betrachte. Und sogar manchmal selber so rede – einfach aus Spass anne Freud‘.
    Da fällt mir gerade noch eine schöne Anekdote ein: Im Colloquium haben wir uns vor der Sitzung über Dialekte unterhalten und ich hatte gerade erzählt, wie merkwürdig ich es finde, dass bei den deutschen Harry-Potter-Hörbüchern den englischen Figuren deutsche Dialekte gegeben werden. Da liegt die Vermutung nahe, dass mit den Dialekten irgendeine Charaktereigenschaft verbunden werden soll: Die böse Umbridge spricht österreichisch und der unzuverlässige, nur auf sein Vergnügen bedachte Sport- und Spielminister spricht rheinisch. Da kam unser Professor herein (der wie ich in Bonn geboren und aufgewachsen ist) und wurde von einem Kommilitonen gefragt, ob er auch rheinisch späche. „Ja, sísche kann isch dat!“ Darauf rutschte mir heraus: „Isch kann dat ooch, ewe isch mach et nit.“ – „Ja, warom machse dat dann nit?“ worauf ich hochdeutsch erwiderte: „Weil man dann nicht ernst genommen wird.“ Lustig fand ich, dass er mich auf Rheinisch duzte, was er sonst nicht tat.
    Wie Du die Rolle der Sprache in „Spätkirmes“ beschreibst, klingt sehr interessant – ich nehme mir dringend vor, es zu lesen. Vielen Dank!

    • Danke für deinen tollen Kommentar, Eva! Mir geht es ja ganz ähnlich, eigentlich habe ich meinen Dialekt auch immer weiter verloren und auch starke Vorbehalte, ihn in der Öffentlichkeit zu sprechen. Aber er ist doch ein Teil von mir. Es freut mich sehr, dass ich dir damit ein kleines Stück Dialekt empfehlen konnte!
      Ich komme übrigens aus der Nähe von Bergheim, also von Bonn aus gleich hinter Köln.

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