Blogbuster 2018 | Unser Longlistkandidat | Alexander Raschle: Die grauen Kinder

Acht Einsendungen hatten wir, drei haben wir komplett gelesen. Es war nicht leicht, aber unsere Entscheidung ist dennoch einstimmig gefallen. Wir gehen mit dem Schweizer Autor Alexander Raschle und seinem Roman Die grauen Kinder ins Rennen um den Blogbuster 2018.

Alexander Raschle: Die grauen Kinder

Eine Hütte in herrlichstem Alpenpanorama. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, ein Bächlein voll kristallklarem Wasser plätschert ganz bestimmt in der Nähe vor sich hin. Auch die vor der Hütte stehenden Soldaten können das Idyll nicht trüben, der Lärm der davonfahrenden Transporter ist schnell vergessen. Doch irgendetwas stimmt nicht, irgendwo geht ein Riss durchs Bild.

Einer der Soldaten ging näher heran, strich vorsichtig über die Fenster, es waren keine; die verwitterte Farbe bröckelte unter seinen Fingern. Ein zweiter näherte sich der dunklen Holzbretterschalung, zog am wuchernden Blätterwerk und darunter verbargen sich Beton und Schiessscharten. Und die Männer standen da, hüllten sich tiefer in ihre Soldatenmäntel und vor ihnen stand bedrohlich das Haus, das keines war, wie eine bizarre Kulisse inmitten der falschen Bergidylle.

Und dann öffnet die Hütte ihren Schlund, die Frontfassade teilt sich in zwei Hälften und gibt den Blick in den Rachen frei. Ein Bunker, der den Berg bis in ungeahnte Tiefen durchzieht. Bereitwillig begeben sich die Soldaten hinein, bereit, ihren Dienst zu tun, um dann, nach getaner Pflicht, in ein paar Wochen wieder aufzutauchen und ihr Leben weiterzuleben. Ihre Namen werden abgehakt und sie verschwinden im Dunkel des Bunkers.

Schnell wird ihnen dort das karge Leben zum Alltag, gewöhnen sie sich an die spärlich erhellte Dunkelheit, die feuchten Wände, die stickige Luft, stinkend nach Schimmel und Schweiß. Und die immerfort dröhnende Lüftung, die vergeblich gegen den Gestank anbläst und zumindest ein Mindestmaß an Sauerstoff zu sichern sucht. Allein einzelne Übungen bringen Abwechslung in den Trott und Sinn in den ansonsten so eintönigen Einsatz. Nicht zu vergessen die angenehme Frauenstimme, deren Durchsagen den Männern Mut machen und die ihnen die Übungen erklärt.

Doch auch im dunklen Alltag des Bunkers trübt sich schnell das etwas stockige, doch zunächst erträgliche Bild. Als eine Übung kein Ende finden will, die Männer in unzähligen Schleifen hängenbleiben und auch die Stimme der Frau sich nicht mehr meldet, fällt plötzlich das gefürchtete Wort: „Strahlenalarm“. Kaum ausgesprochen, ist es auch schon wieder dementiert, doch bleibt es wie ein Geist im Bunker hängen. Was, wenn es wahr ist? Wenn alles da draußen, alles, wofür sich der Drill lohnt, nicht mehr ist? Die Hoffnung bröckelt, und mit ihr auch die geistigen Kräfte der Soldaten.

Steiner sah auf ihn herab. Küttel regte sich nicht, versuchte zwanghaft ein Husten zu unterdrücken. Bernasconi stand im Schatten, umklammerte das kleine runde Biskuit von hellbrauner Farbe mit beiden Händen, hielt es ins Licht wie ein aus dem eigenen Fleisch geschnittenes Sühneopfer. Steiner sah auf ihn herab, unbewegt, ausdruckslos. Dann streckte er den langen Arm aus und nahm das Biskuit, ass aber nicht.

Die Wände rücken immer näher. Die feuchten Flecken werden größer und dunkler, überhaupt wird die Dunkelheit immer dichter, greift nach den Männern. Das Brot ihrer Mahlzeiten stiert vor Schimmel, das Wasser überzieht ein öliger Film. Kaum mehr ein Befehl, der Sinn ergeben mag, kaum mehr eine Übung, die ein Ende auch nur mehr möglich erscheinen ließe. Für die Männer bröckelt nach der Hoffnung nun auch das letzte, woran sie sich festhalten konnten, dahin. Selbst der blinde Gehorsam findet keinen Halt mehr im Bunker.

Alexander Raschle nimmt uns in Die grauen Kinder mit in ein tiefschwarzes Kammerspiel, das die Leser*innen ebenso einfängt wie die Männer im Bunker. Es ist ebenso spannend wie bedrückend mitzuerleben, wie mit dahinsinkender Hoffnung die Fassade der Zivilisation, der Etikette und auch des Stolzes immer tiefere Risse bekommt und die Ängste und Traumata des Unterbewussten freilegt. Das fromme Büßertum der christlichen Erziehung artet in masochistisch-devote Züchtigungssucht bei den einen, und sadistische Allmachtsfantasien bei den anderen aus. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch die kindliche Hilflosigkeit.

Mit einer auf das Nötigste reduzierten Sprache zeichnet Raschle in den spärlich ausgeleuchteten Gängen des Bunkers geradezu ikonische Bilder der geistigen Verwahrlosung und des Wahns, der Bösartigkeit und Selbstsucht. Dabei werden zwei Perspektiven ineinander verwoben: eine nahe und ein ferne. Erstere setzt einen engen Fokus auf das Bataillon von Korporal Steiner. Seine höchst unterschiedlichen Männer sind es, die wir in unnachgiebig nahen Szenen langsam den Verstand verlieren sehen. Die zweite Perspektive sieht aus der Ferne auf den Bunker, blickt gottgleich auf den menschengemachten Ameisenhaufen. Kein Wunder, dass die Sprache dieser Teile immer wieder einen biblischen Duktus bekommen, den Ton einer Apokalypse. Beiden Perspektiven ist dabei die Innensicht vollkommen fremd, sie beschränken sich auf das Beschreiben des Geschehens.

Die grauen Kinder ist ein Roman, der viel wagt. Mit seiner beklemmenden Dunkelheit und dem aus dieser stierenden Wahn der Bunkerinsassen ist er alles andere als Feel-Good-Literatur. Ganz im Gegenteil, der Roman ist harte Kost. Allerdings liest sich diese Kost ganz vorzüglich, schlägt die Sprache in einen Bann, der den Weg in die immer tieferen Abgründe der Menschen wie des Bunkers fließen lässt. Gleichzeitig setzt Raschle ein starkes Zeichen gegen den militärischen Drill und zeigt in den menschlichen Abgründen auf, was in vielen von uns schlummert.

Ein Buch, das unserer Meinung nach unbedingt veröffentlich werden sollte. Wir sind sehr glücklich, dass Alexander uns seinen Text Die grauen Kinder anvertraut und werden voller Tatendrang mit ihm in den Pitch gehen. Vergangene Woche durften wir den Autor auch kennenlernen und werden ihn euch bald noch genauer vorstellen.

Kategorie Blog, Mischmasch
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

6 Kommentare

  1. mir läuft es kalt den rücken hinunter, wenn ich deinen text lese, und würde gerne weiterlesen.die sprache trifft es auf den punkt und erzeugt bilder voller spannung. sehr gut gemacht. toi, toi, toi. und fröhliche ostergrüße von ulla

    • Berechtigte Frage, lieber Tom! Leider geht es vielen wirklich guten Manuskripten so. Sie schlummern unentdeckt in riesigen Manuskriptstapeln in den Verlagen. Dieses bestimmte hier ist aber in dieser Form noch kaum aus der Schreibtischschublade herausgekommen. Auch das: spannend!

  2. Liest sich nach einem Buch, das ich ebenfalls sehr gern lesen würde – trotz seiner Düsternis. Denn ich mag solche Kammerspiele auf engstem Raum. Es scheint, dass auch die zweite Blogbuster-Auflage interessante Titel bereithält, habe „Der Andere“ von Sabine Huttel gelesen, den Marion ins Rennen schickt, und bin sehr begeistert. Das wird spannend, aber so soll es sein. Viele Grüße und auch Euch viel Glück

    • Liebe Constanze, danke für deinen Kommentar! Wir sind auch sehr gespannt, wie die Longlist aussehen wird und wie es dann zur Shortlist weitergeht. Dass unser Text dich anspricht, ist schon mal eine sehr schöne Motivation! Viele Grüße, Stefan

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