Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

Leichtigkeit und Schwere treffen in Heinz Helles neuem Roman Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp) in den verschiedensten Formen aufeinander. Ein betrunkener Monolog ist hier manchmal nur einen Wimpernschlag von den elementarsten Fragen zu Leben und Tod entfernt.

Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

Familienverhältnisse sind wohl nie wirklich einfach. Too much history, würde man in einer Sitcom sagen. Das Verhältnis zwischen Brüdern ist meist komplex, das zwischen Stiefbrüdern vielleicht noch ein bisschen mehr als das. Ob ein großer Altersunterschied es besser oder schlechter macht, ist wohl pauschal schwer zu sagen. Die Überwindung der Schwerkraft zeigt eine sehr spezielle Variante.

Wir lesen das fließende Erinnern des Erzählers an seinen großen, kürzlich verstorbenen Stiefbruder. Sie hatten ein durchaus komplexes Verhältnis – sehr viel history, sehr viele Geschichten, und nicht zuletzt sehr viele Flaschen Weißbier stehen zwischen den beiden. Letztere manchmal buchstäblich, wenn der Ältere unangemeldet vorbeikommt und sie zusammen trinken. Immer öfter schlägt er auf, immer mehr Bier wird getrunken, zu immer früheren Tageszeiten. Plötzlich die Nachricht von seinem Tod; die letzte, besonders harte Kneipentour war plötzlich das Letzte, was die beiden zusammen unternommen hatten; das Letzte, was dem Erzähler von seinem großen Bruder in Erinnerung bleiben wird.

Es ging stetig bergab mit dem Stiefbruder. Ein typisches Beispiel für den eigenen größten Feind, spielten ihm Idealismus, Sturheit und Fatalismus immer wieder Streiche, die ihn erst diverse Jobs kosteten. Schließlich dann auch seine Beziehung, den letzten Halt in einem unsteten Leben. Er trieb von einem Extrem ins andere, folgte nicht nur einer Idee so intensiv, dass sie sich ins Gegenteil kehrte, und litt wohl an Weltschmerz wie kaum ein anderer. Kein Wunder, dass dunkle Charaktere wie Marc Dutroux ihn ebenso abgrundtief abstoßen, wie sie ihn faszinieren.

Ich weiß nicht, was mein Bruder von der Welt wollte, ich weiß auch nicht, was ich von ihr will, oder was ich wollte, als ich anfing, mir seine Gedanken, oder das, was ich heute dafür halte, wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Wie die Fluxus-Ringe auf dem Cover, so ist auch im Inneren von Die Überwindung der Schwerkraft alles im Fluss. Der Bewusstseinsstrom des Erzählers kennt zum Glück hier und da noch Punkt und Komma, auf Absätze oder Kapitel verzichtet der Roman aber komplett. Nicht selten denkt man sich »Ein Satz geht noch!«, und endet zwei Seiten später. Doch das ist nicht der einzige Grund, wieso es schwer ist, Die Überwindung der Schwerkraft wegzulegen.

Inhaltlich geht es vom Hölzchen aufs Stöckchen, ein Gedanke jagt den nächsten, Assoziationsketten bilden sich mal in bierseliger Leichtigkeit, mal in melancholischer Schwere. Für die Leser*innen liegt hierin eine ziemliche Herausforderung, denn manchmal ist es gar nicht so leicht, den springenden Gedanken zu folgen. Höchste Aufmerksamkeit ist gefragt, um zwischen den betrunkenen Reden des Bruders und den Reflexionen des Erzählers sauber zu unterscheiden. Auch, weil beide Ebenen sich in ihrer Tiefe immer wieder erstaunlich nah kommen.

Denn die betrunkenen Assoziationen des Bruders laufen zwar oft ins Leere, winden sich zu ihren eigenen Sackgassen oder verknoten sich kunstvoll ineinander. Nicht selten kommen sie jedoch plötzlich an einen Punkt, der Essenzielles berührt. Dem Erzähler scheint es an diesen Punkten fast die Sprache zu verschlagen. Aber nur fast, denn Verharren ist nicht die Sache dieses Romans. Er fließt, vom Leichten ins Schwere, mal flott, mal langsam. Mit den Themen variiert auch das Tempo, die Stimmung schwankt von fröhlich zu bedrohlich, melancholisch zu deprimiert, genervt zu manisch.

Bringt man die nötige Ruhe und Konzentration mit, ist Die Überwindung der Schwerkraft ein wunderbarer Roman, der mit Leichtigkeit durch die Tiefen einer facettenreichen Bruderliebe führt. Dabei berühren sie in ihren ebenso melancholischen wie feucht-fröhlichen Nächten immer wieder auch existenzielle Fragen, und dies auf überaus originelle Weise – Weißbier sei Dank!

Heinz Helle: Die Überwindung der SchwerkraftHeinz Helle

Die Überwindung der Schwerkraft*

Suhrkamp

208 Seiten | 20 Euro

Erschienen am 10.9.2018


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Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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