Eines Tages, Baby, werden wir alt sein,
oh Baby, werden wir alt sein
und an all die Geschichten denken,
die wir hätten erzählen können.
(One Day / Reckoning Text)
Spätestens seit Beginn dieses Jahres sind diese Zeilen nicht mehr bloß die Übersetzung eines Songtexts von Asaf Avidan & the Mojos. Die mittlerweile 22-jährige Julia Engelmann benutzte diese Lyrics als Aufhänger für einen ihrer Poetry Slam-Texte, mit dem sie bereits im Mai 2013 am Bielefelder Hörsaalslam teilnahm.
Anfang 2014 verbreitete sich der Mitschnitt von Engelmanns Auftritt dann ganz plötzlich und virusartig im Netz. Ihr Text über verpasste Chancen im Leben und das Gefühl des ewigen Aufschiebens von Herzenswünschen schien den Nerv der Zeit getroffen zu haben. In den Medien wurde der Slam schnell als Ausdruck eines Lebensgefühl einer ganzen Generation interpretiert. Auch ich wurde erst im vergangenen Januar auf die Bremer Slammerin aufmerksam, habe mir „One Day / Reckoning Text“ angeschaut/angehört und war begeistert. Ungefähr vier Monate später erschien dann Engelmanns erstes Buch Eines Tages, Baby im Goldmann Verlag. Neben ihrem „One Day-Slam“ finden sich darin 13 weitere Texte. Nun geht es beim Poetry Slam ja grundsätzlich um die mündliche Präsentation selbstgeschriebener Texte. Können solche Sätze, die eigentlich von der Performance ihrer Schöpfer leben, auch in Buchform überzeugen? Im Falle von Julia Engelmann muss ich diese Frage entschieden mit JA beantworten. Ich mag die glasklare Sprache der Autorin und die Gelassenheit, mit der sie scheinbar mühelos ihre Wörter aneinanderreiht, sodass sie sich wie bodenständige Lyrik lesen lassen.Und ich finde meinen Platz. / Und ich finde meinen Raum / in der kleinsten gemeinsamen Schnittmenge / aus deiner und aus meiner Welt. / Wir sind unser kleinstes gemeinsames Vielfaches, / sind das, was uns zusammenhält.
(Stille Wasser sind attraktiv)
Manchmal erscheinen mir Engelmanns Verse auf den ersten Blick etwas lapidar und oberflächlich. Nur ist genau diese Einfachheit in der Sprache der unverkennbare Stil der Autorin. Geradeheraus formuliert sie ihre Gedanken über das Leben, immer gewürzt mit einer kleinen Portion Weltschmerz, was mir besonders gefällt.
Die schwarze Straße hat sich breitgemacht, / schläft jetzt schweigend ihren Rausch aus, / und zwischen Kreuzungen und Seitengassen / tut sich nirgendwo mein Haus auf.
Und ich merke, wie ich gehe, / merke, wie ich mich bewege, / aber mein Leben auf der Stelle steht / und bloß unter mir die Welt sich dreht.
(Ich kann alleine sein)
Die Slam-Texte der Bremerin lassen mich meistens melancholisch und nachdenklich zurück. Besonders beeindruckt hat mich jener Text, in dem sie die Beziehung zu ihren Eltern ohne Schnörkelei und trotzdem mit unglaublich viel Tiefe auf den Punkt bringt. Ihre Liebeserklärung an Mutter und Vater zeigt, wie familiäre Wurzeln ein ganzes Leben festigen und lenken können.
Ihr seid mein Beweis, dass Liebe mehr als Geld zählt, / seid der Rahmen für mein Weltbild, / alles, was für mich als Held gilt.
Ihr gebt mir Halt, ohne mich festzuhalten, schafft es, / wenn ich’s nicht kann, mich auszuhalten, / würdet nichts tun, mich je aufzuhalten, / eher bringt ihr mich dorthin.
Ich brauch nichts zeigen, und ihr seht mich, / ich brauch nichts sagen, ihr versteht mich, / ich brauch nichts haben, und ihr nehmt mich, / nehmt mich einfach, wie ich bin. […]
Und mir kann nichts passieren, / weil ich weiß, ihr seid noch hier, / ich gehör zu euch, und ihr gehört zu mir.
(Für meine Eltern)
Die Texte in Eines Tages, Baby sind vielleicht keine hohe Lyrik, aber sie kommen von Herzen, machen Mut und zeigen uns immer wieder, wie wertvoll jeder einzelne unserer Lebenstage ist. Mich erinnern Julia Engelmanns Sätze an wunderbare Songtexte, die lyrisches Potenzial in sich tragen. Einziger Wermutstropfen ist, dass die Beiträge thematisch doch sehr eng beieinander liegen und nach vier bis fünf Slams die Gefahr besteht, dass sich Monotonie einstellt. Deshalb empfehle ich, die Texte über einen längeren Zeitraum verteilt, immer mal wieder zu lesen und jeden einzelnen separat auf sich wirken zu lassen. Vor allem in stressigen Zeiten oder einfach vor dem Einschlafen tut so ein „Slam-Gedichtchen“ zwischendurch gut und ist Futter für die Seele. So hatte auch ich die größte Freude an diesem kleinen Büchlein.
Julia Engelmann
Eines Tages, Baby
Goldmann
ISBN: 978-3-442-48232-0
Juni 2014