Nachlese zum 23. open mike in Berlin

Zum 23. Mal fand am vergangenen Wochenende der open mike in Berlin statt. Er ist der wichtigste Literaturwettbewerb für junge, deutschsprachige Autor_innen unter 35 Jahre und verspricht den Teilnehmenden viel Aufmerksamkeit. Gefördert wird die gesamte Veranstaltung von der Literaturwerkstatt Berlin und der Crespo Foundation. Die wichtigsten Menschen des Literaturbetriebs versammeln sich zu diesem Event jährlich im Heimathafen Neukölln und vor allen Lektor_innen halten Ausschau nach neuen Talenten. Den open mike gibt es seit 1993 und hat namhafte Schreibende wie Zsusza Bánk, Karen Duve, Julia Franck oder Tilman Rammstedt hervorgebracht.

Die Regeln des Wettbewerbs sind einfach: Jeder/jede Teilnehmende sendete einen Text ein. Dieser wurde anonymisiert der Jury vorgelegt. In diesem Jahr waren es knapp 600 Einsendungen, durch die sich die Jury gelesen hat. Daraus wählten die Juror_innen 20 Finaltexte aus, welche am Wochenende in Berlin von den Autor_innen präsentiert wurden. Die Jury (Jan Brandt, Klaus Merz, Terézia Mora) vergab dann am Ende zwei Preise für Prosa und einen für Lyrik. Die Preisträgerinnen für Prosa sind Jessica Lind und Theresia Töglhofer, für Lyrik Andra Schwarz. Zusätzlich wird seit letztem Jahr noch der taz-Publikumspreis verliehen, welcher dieses Mal an Philip Krömer ging.

Nun ist solch eine Juryentscheidung doch eher etwas Subjektives, weshalb ich mir die 20 Finaltexte, erschienen als Anthologie im Allitera Verlag, noch einmal genauer zu Gemüte geführt habe. Da ich selbst nicht beim open mike war, konnte ich die Texte als solche ganz losgelöst vom mündlichen Vortrag betrachten. Dabei fand ich die gekürten Prosatexte okay, wenn auch nicht besonders speziell. Töglhofers Das pure Leben bietet zwar durchaus Identifikationspotenzial, aber literarisch nicht viel Neues. Das Bild einer jungen Generation, die in der Welt umherreist, dabei niemals zurückblickt, sondern nur den Augenblick bewahrt, eingebettet in eine Liebesgeschichte, bei der eine Person mehr erwartet – das ist irgendwie nett, erinnert mich aber stark an einen beliebigen NEON-Artikel. Viel lebendiger erschien mir dagegen Felix Krackes Bist’n good boy, Matze. In diesem Text geht es um eine Skater-Clique, die auf irgendeine Weise ihren wichtigsten Antrieb, ihren Matze verloren hat. In Krackes Text steigen sie auf ihr Dach, das schon immer Traumwelt für Tim, Pete, Jess und Matze war:

Wir suchen nach Metaphern auf den Dächern über der Stadt und enden im Maritimen. Das Meer als verlässlichstes Terrain. Wir stehen in den Nächten vor den Tagen auf den Dächern und fantasieren uns auf offene See. Die Stadt wogt, als sei die das Meer. Auf den Dächern, Matze, lernt man zur See fahren, und wir haben es von dir gelernt.

Melancholie durchdringt den gesamten Text und doch bleibt das Geschriebene nicht nur an der Oberfläche haften. Kracke gelingt es, Offensichtliches auszublenden und geht dabei mit einer einfachen, temporeichen Sprache in die Tiefe des Vermissens ohne auch nur einmal explizit auszusprechen, was mit Matze passiert ist. Ich könnte diese Geschichte ewig weiterlesen. Doch endet sie für mich immerhin tröstlich, indem Tim, Pete und Jess sich gegen jede Art von Trauerbewältigung stellen und ihren Mikrokosmos erhalten.

Wir stehe Spalier und vor den Morgen auf. Steigen auf die Dächer, als wär’ keine Zeit, kein Tag vergangen. Sprechen die Lügen, bis sie wieder stimmen, Rettung durch Fiktion. Denn wenn man daran wachsen soll, bleiben wir lieber klein. […] Denn du warst ein good boy, Matze, und noch viel mehr.

Im lyrischen Bereich komme ich mit der Jury überein. Andra Schwarz’ Gedichtsammlung ist von einer Klarheit, die mich beim Lesen immer tiefer in ihren Bann zieht. Die Lyrikerin hat es besonders auf den Wald als Handlungsort für das lyrische Ich abgesehen. Der Wald als Ort von Zurückgezogenheit, Ursprünglichkeit und Wesentlichkeit – vielleicht keine innovative Wahl, aber sie erfüllt doch ihren Zweck. Schwarz’ Gedichte brauchen keine besondere grafische Form, keinen Schnickschnack. Sie wirken allein durch die offene und klare Aneinanderreihung der richtigen Wörter im richtigen Moment.

An kalten tagen halte ich mich bedeckt
mein körper ein fremder wald
bleibt ohne aufsehen
fallen die temperaturen tiefer
ist alles verlangsamt auch dein blick
jeder laut gefriert über dem boden
sinkt in den abraum aus schnee
eine hand ein fuß
das öffnen und schließen deiner augen

Selten habe ich eine derartige Tiefe beim Lesen deutschsprachiger Gegenwartslyrik empfunden. Sie zeigt auf kreative Weise, wie sehr Mensch und Natur sich nah sind, sich ähneln. Schwarz schlägt in ihren Gedichten die leisen, aber bleibenden Töne an, die in meinem Kopf noch nachklingen, bis ich die Anthologie schon wieder weggelegt habe. Ich freue mich schon jetzt auf ihren ersten Lyrikband.

Es lohnt sich auf jeden Fall, noch weiter in der open mike-Anthologie zu stöbern. Bei der Vielfalt der Texte sollte wohl jede und jeder einen Favoriten und vor allem Gefallen an der jungen deutschsprachigen Literatur finden.

 

23. open mike in Berlin 23. open mike in Berlin

23. open mike:
Die 20 Finaltexte

Allitera Verlag
ISBN: 978-3-86906-806-0
im November 2015 erschienen

P.S. Wer die Texte lieber als Lesung genießen möchte, kann sich alle Beiträge vom open mike 2015 bei Soundcloud anhören.

 

 

Filed under Blog, Mischmasch, Rezensionen

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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