Weltweit sind momentan 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist eine traurig hohe Zahl. Vor allem seit den Sommermonaten des vergangenen Jahres ist die „Flüchtlingskrise“ deutlich in Deutschland und anderen europäischen Staaten spürbar. Die Situation der Geflüchteten, der Umgang mit ihnen ist in aller Munde. Ich muss zugeben, dass es mir oft schwer fällt, über die Geflüchtetenthematik zu sprechen. Obwohl ich ganz klar dafür bin, diesen verfolgten und heimatlosen Menschen zu helfen, finde ich es oft schwierig, vor allem mit Asylgegner*innen, aber auch -befürworter*innen über dieses Thema zu sprechen. Ich habe das Gefühl, diese komplexe Thematik wird immer mehr tabuisiert. Mir fehlen oft die Worte, aber wohl noch öfter der persönliche Umgang mit geflüchteten Menschen. Lange Zeit wusste ich nicht, wie ich mich der Thematik überhaupt nähern kann. Ich glaube, ein guter Ansatz ist, dies über die Literatur zu tun. Denn welches Kulturgut liegt mir näher als die Bücher? Ich will das gern öffentlich auf meinem Blog tun, um mit euch ins Gespräch zu kommen.
Anstoß für die Entstehung der neuen Kategorie Fluchtliteratur gab mir ein Seminar an der Universität, das ich in diesem Semester belege. Es trägt den Titel Flucht in der Gegenwartsliteratur. Wir nähern uns dort den Fragen: Was macht neueste Fluchtliteratur aus? Und welche sind spezifische Eigenschaften der neueren Fluchtbewegungen in Abgrenzung beispielsweise zur Flucht in der NS-Zeit? Wie wird Flucht sprachlich umgesetzt? Und welche Rolle spielt die Sprache allgemein in dieser komplexen Thematik?
In meinen Rezensionen werde ich versuchen, diese Punkte aufzugreifen. Die besprochenen Bücher werden sich allesamt mit den neueren Fluchtbewegungen beschäftigen. In der Vergangenheit habe ich ja bereits Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge und Willkommen und Abschied rezensiert. Ähnliche Titel, zunächst vor allem solche, die wir auch im Seminar besprechen, sollen nun unter der Kategorie Fluchtliteratur folgen. Stefan wird mich dabei natürlich tatkräftig unterstützen. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn einige unter euch dieses Thema aufgreifen und vielleicht auch einen oder mehrere Beiträge unter dem Hashtag #Fluchtliteratur veröffentlichen. Je mehr Beteiligung, desto größer kann die Sensibilisierung für dieses Thema werden.
In diesem ersten Beitrag möchte ich euch nun ein kleines Reclam-Heftchen ans Herz legen, das zwar keine der neueren Fluchtbewegungen behandelt, allerdings zeitlos lesenswert ist. Es handelt sich um den Essay Wir Flüchtlinge von Hannah Arendt, den sie 1943 in ihrem US-amerikanischen Exil verfasst. Arendt war Jüdin und ist 1933 mit dem Aufkommen der Entrechtung und Verfolgung von jüdischen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschland in die USA emigriert.
Wir Flüchtlinge beginnt mit einer Provokation. Arendt widersetzt sich gleich im ersten Absatz ihrem eigenen Essay-Titel, indem sie schreibt, dass sie anstatt mit „Flüchtling“ lieber mit „Neuankömmling“ oder „Einwanderer“ betitelt werden möchte. In ihren Augen impliziert das Wort „Flüchtling“, dass sie fliehen musste, aber Arendt sieht sich als freiwillig in die USA Eingewanderte. Auch hierzulande gibt es Diskussionen um den Begriff des „Flüchtlings“. Viele stören sich an der Diminutiv-Endung „-ling“ und der damit einhergehenden Versachlichung eines Menschen mit persönlichem Schicksal. Als Alternative wird das Wort „Geflüchtete“ verwendet. Doch auch hier findet sich Kritik: Dieses Partizip Perfekt impliziert, dass die Flucht der jeweiligen Menschen bereits abgeschlossen sei. Das ist allerdings bei den allermeisten nicht der Fall. Die englische Variante „refugee“ wäre eine zweite Alternative zum „Flüchtling“. Es ist abgeleitet vom englischen refuge, was so viel bedeutet wie Zufluchtsort oder Schutzort. Hier wird der Fokus also gar nicht so sehr auf die Flucht an sich gelegt, sondern eher auf das, was diese Menschen suchen und wir ihnen bieten wollen: einen sicheren Ort. Eine mögliche deutsche Entsprechung wäre demzufolge vielleicht „Zufluchtsuchende“. Diese Bezeichnung wäre wohl politisch am korrektesten, sprachlich gesehen allerdings mehr als umständlich. Ich bleibe deshalb zumeist beim Begriff der „Geflüchteten“, da er für mich gerade das Verlassen der Heimat betont, ein Angekommen-Sein aber meiner Meinung nach nicht zwingend impliziert.
Weiter spricht Arendt in Wir Flüchtlinge von den Verlusten, die sie durch ihre Flucht hinnehmen muss: ihr Zuhause, die Sprache, die Vertrautheit des Alltags, ihr Beruf und damit ihre allgemeine Nützlichkeit sowie natürlich die Freunde und Verwandten wurden ihr genommen. Der geflohene Mensch, heute wie damals, muss sich im neuen Land eine vollkommen neue Existenz aufbauen. Dafür braucht es nach Arendt eine Menge Optimismus, „der Tür an Tür mit der Verzweiflung wohnt“. Um die Verzweiflung nicht überhand nehmen zu lassen, gibt es einen einzigen Schutzmechanismus: das Vergessen. Arendt beschreibt es als „überlebenswichtig“, denn viele der mit ihr geflohenen Menschen sahen im Tod ein „geringeres Übel“ als sich den immensen Schwierigkeiten im neuen Land auszusetzen. Anpassung ist eine dieser Schwierigkeiten:
Je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind oder wie wir leben wollen, desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu verbergen und in Rollen zu schlüpfen.
Doch bei aller Anpassung bleibt die Akzeptanz der Einheimischen oft aus. Das ist wohl auch heute noch eines unserer größten Probleme im Umgang mit Geflüchteten. Arendt spricht in Wir Flüchtlinge von einer „offiziellen Versicherung der Gastfreundschaft“, in der ich parallel dazu unsere heutige „Willkommenskultur“ sehe, um es weiter mit Arendts Worten zu beschreiben, eine „Erklärung des guten Willens“. Ein gewisses Maß an Anpassung wird trotzdem vorausgesetzt, heute wie damals. Nur hat die ganze Sache einen Haken: Arendt beschreibt, dass am Ende aller Bemühungen der Geflüchteten doch wieder die Reduzierung auf das Anders-, in ihrem Falle Jüdisch-Sein durch die Außenwelt erfolgt. Parallel dazu sehe ich auch bei den neueren Fluchtbewegungen die Reduzierung gerade der geflohenen Muslime auf ihren islamischen Glauben. Vor allem rechtspopulistische Parteien wie die AfD oder Bewegungen „besorgter Bürger“ wie Pegida betonen dies immer wieder und erschweren durch ihre Hetze das sowieso schon schwierige Ankommen der Geflüchteten zusätzlich. Ätzend und unnötig.
Wer also gern einmal die Gefühle und Gedanken eines geflohenen Menschen nachvollziehen möchte, sollte sich unbedingt den kleinen Essay Wir Flüchtlinge von Hannah Arendt zulegen. Zwar liegt ihre Flucht schon über siebzig Jahre zurück, aber dennoch tun sich in ihrem Text erschreckend viele Parallelen zu den neueren Fluchtbewegungen auf.
Sehr interessant! Werde hier immer mal wieder hereinschauen. Das Büchlein von Hannah Arendt habe ich schon vorbestellt.
Super, freut mich.
Liebe Grüße
Juliane