Am Donnerstag fand die erste Ausgabe der neuen Gesprächsreihe »Let’s talk about class« im Berliner ACUD statt. Zu Gast waren Lucy Fricke, Paula Fürstenberg und Aurélie Maurin, moderiert wurde von den beiden Veranstaltenden Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer. Die eigene Herkunft, Klassenunterschiede, die die Wende hervorgebracht hat, und wie weit wir hierzulande, verglichen etwa mit Frankreich, im Diskurs hinterher hängen, waren nur einige Themen.
Schummerig ist es im Studio des ACUD, die Anordnung der Stühle und der »Bühne« gar nicht lesungstypisch. Und das ist gut so. Ein bisschen wie damals bei Roche & Böhmermann sitzen die Beteiligten an diesem Abend an einem Tisch in der Mitte des Veranstaltungsraumes, nur eben mit Publikum drumherum. Eine gewagte Anordnung, die voll und ganz aufgeht. Passend zum Thema werden so Hemmungen und Barrieren abgebaut. Die Atmosphäre ist intim, die Diskussionsteilnehmenden befinden sich auf Augenhöhe.
Nach einigen Worten zum rassistisch motivierten Anschlag in Hanau nachts zuvor beginnt das Gespräch mit der Frage nach der Herkunft. Lucy Fricke beginnt. Sie erzählt von ihrem Aufwachsen als Arbeiterkind im heruntergekommenen Hamburger Osten, wie sie das Abi abgebrochen und sich im Graskonsum verloren hat, um schließlich von Sozialarbeiter*innen im betreuten Wohnen doch wieder »auf Spur gebracht« zu werden.
Es braucht Leute, die sich kümmern und das sind am Ende meistens nicht die Eltern.
Lucy Fricke
Wegen »besonderer Begabung« und eines unbedingten Willens wird Lucy Fricke später auch ohne Abitur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig angenommen. Der Rest ist bekannt. Ihr aktueller Roman Töchter ist in Deutschland ein Bestseller und wird bald fürs Kino verfilmt, der nächste Roman sehnlichst erwartet. Dennoch hängt ihr ihre Herkunft, die Klasse, aus der sie kommt, bis heute nach. »Für mich ist jeder Tag wie Weihnachten«, sagt sie und erklärt, wie sie jeden Tag ihres Lebens Dankbarkeit und Lebensfreude dafür empfindet, den prekären Lebensverhältnissen entkommen zu sein.
Wenn du kein Abitur hast, musst du härter arbeiten als alle anderen.
Lucy Fricke
Auf der anderen Seite schleichen sich aber auch Existenzängste ein, eine Art von Einsamkeit, weil durch den »Klassenwechsel« auch Familie und Freunde ein Stück weit zurückgelassen wurden. Das Gefühl, einen Makel zu haben. In Gesprächen mit anderen, privilegierteren Personen wird sich absurderweise oftmals für Lucys »Offenheit« bedankt, wenn sie von ihrer Herkunft spricht.
Andere erben, ich zahle jetzt für meine Eltern.
Lucy Fricke
Ganz ähnlich ergeht es Paula Fürstenberg, wenn sie mal wieder auf einem Empfang in Literaturkreisen unterwegs ist und merkt, dass sie mit teuren Weinen ebenso wenig anfangen kann wie mit gehobenen Umgangsformen. Sie ist 1987 in Potsdam geboren und als Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin noch mit den Leitbildern der DDR sozialisiert worden. Den Begriff »Klasse« gab es dort nicht, höchstens den »Klassenfeind«.
Wir können nicht über Klassen reden, ohne die Eltern mit auf die Bühne zu holen.
Paula Fürstenberg
Finanzielles Kapital gab es in der DDR nicht, dafür nur intellektuelles. Genau das fällt den Menschen aus den neuen Bundesländern auf die Füße – der Westen erbt, der Osten nicht. Und das zieht sich weiter in die nächsten Generationen. Mit der Wende kam eine neue, dritte Klasse: die der ehemaligen DDR-Bürger*innen. Paula Fürstenberg befindet sich irgendwo zwischen Westen und Osten. Innerhalb ihrer Familie ist sie die schon im Westen sozialisierte Intellektuelle, bei den tatsächlich meist im Westen sozialisierten Intellektuellen die im Osten sozialisierte Nicht-Akademikerin.
Aurélie Maurin gibt uns schließlich den Blick von außen. Sie ist Französin, aufgewachsen in den Banlieues von Paris mit dem Fernseher als vertrautesten Gesprächspartner. Wie groß der Unterschied zwischen ihr und ihren Klassenkamerad*innen in der Pariser Eliteschule, die sie besucht, ist, wir ihr mit der Zeit immer deutlicher.
Man kann den Unterschied zwischen der Banlieue und Paris nicht mit einer Busfahrt aufholen, es bleibt der Klassenjetlag.
Aurélie Maurin
Doch im Gegensatz zu Deutschland wird in Frankreich über das Thema heiß diskutiert, und das nicht erst seit Didier Eribon Rückkehr nach Reims veröffentlicht hat. Vokabeln wie »Klassenwechsler« oder »Klassenspringer« gehören zum gebräuchlichen Wortschatz – Wörter, die es in Deutschland nicht einmal gibt. In Deutschland habe man dagegen Angst, eine »subjektive Erstverschlimmerung« zu erwirken, sobald man über solche Themen spricht. Es gibt hierzulande ein Unbehagen, abgestempelt zu werden für die eigene Herkunft – und nicht gesehen zu werden als das, was man heute ist. Der Klassenkrampf in Deutschland ist real, aber Gesprächsreihen wie »Let’s talk about class« sind ein erster Schritt Richtung Entkrampfung.
Aurélie Maurins Chanson über den »Klassenkrampf«
Aurélie Maurin: Das Lied mixt die Chansons »Fils de …« von Jacques Brel und »La ballade des gens qui sont nés quelque part« von Georges Brassens.
In »Fils de …« besingt Jacques Brel, wie ähnlich alle Kinder doch seien. Alle Kinder sind wie deine: ob Sohn guter Bürger, Sohn von »Zigeunern« oder Sohn eines Kaisers, dasselbe Lächeln, dieselben Tränen … »Doch erst danach, lange danach …« – warnt der Refrain. Ja, was passiert danach? Die Antwort ist in Brassens’ »Lied der Leute, die irgendwo geboren wurden« zu hören und macht schön explizit, wie die Prägungen durch Herkunft nicht so lange auf sich warten lassen werden. (Zurück zu Brel) Ob ein Dach aus Gold, ob ein Dach aus Stroh … sind alle Kinder wirklich alle lebensfroh?
Die nächste Ausgabe von »Let’s talk about class« gibt’s am 2. April im ACUD.