Am 10. September findet die vierte Ausgabe von »Let’s talk about class« über Wege aus dem Klassenkrampf im Berliner ACUD statt. Dieses Mal wieder mit ein wenig Publikum und natürlich im Stream. Zu Gast werden Dilek Güngor, Jackie Thomae und Katy Derbyshire sein. Wir haben ihnen vorab fünf Fragen zum Thema »Klasse« gestellt.
Dilek Güngör
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Bis zu Didier Eribons Rückkehr nach Reims und Daniela Dröschers Zeige deine Klasse habe ich mich wenig mit der Klassenfrage beschäftigt. Ich dachte, das betrifft mich nicht. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Mich begleitet noch immer die Überzeugung: Du musst dich anstrengen. Du musst dich noch mehr anstrengen. Wenn mir etwas nicht gelingt, dann habe ich mir wohl nicht genug Mühe gegeben.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Heute nicht mehr, aber als ich ein Kind war, habe ich mich sehr danach gesehnt, so zu leben wie meine deutschen Freundinnen. So selbstverständlich schien mir ihr Leben, so eindeutig.
Warum setzt du dich mit dem Thema auseinander?
Es hat mich immer beschäftigt und war jeden Tag da. Ich schöpfe viel daraus für meine Arbeit.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Außer den beiden, die ich oben genannt habe, finde ich auch vieles, was sich sehr vertraut anfühlt, bei afroamerikanischen Autor*innen. Im Moment ist mir James Baldwin sehr wichtig.
Dilek Güngör, geboren in Schwäbisch Gmünd, ist Journalistin und Kolumnistin (Berliner Zeitung, Stuttgarter Zeitung). Ihre Kolumnen sind in den Bänden Unter uns und Ganz schön deutsch versammelt. Ihr zweiter Roman Ich bin Özlem erschien 2019.
Jackie Thomae
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Ich habe ein eher ambivalentes Verhältnis zum Begriff »Klasse«. Ich bin bis 1989 im Osten zur Schule gegangen, wo das Wort Klasse fast ausschließlich im Zusammenhang mit Arbeiterklasse genannt wurde. Diese Phrasen waren damals schon veraltet beziehungsweise tot, und haben mich deshalb in keiner Weise berührt. Und ich denke auch heute, dass es zwar Klassenunterschiede gibt, dass die Einteilung in Klassen beziehungsweise die Zuordnungsmerkmale, an denen wir diese Einteilung versuchen festzumachen, nicht mehr gelten.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Meine Großeltern waren Selbstständige und hatten ein Mietshaus. Als Freie, oder neuerdings auch gern Soloselbstständige, sehe ich mich nicht direkt als Unternehmerin, hatte aber immer das Gefühl, mich allein um meinen Kram kümmern zu müssen.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Ich habe mich nie einem starren sozialen Milieu zugeordnet. Insofern: nein.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
> Darren McGarvey: Poverty Safari – Understanding the Anger of Britain’s Underclass
> Ruth Rendell: Urteil in Stein (verfilmt von Claude Chabrol als »Biester«) – Eine Haushaltshilfe bringt ihre Arbeitgeber um, weil sie nicht schreiben
> Leïla Slimani: Dann schlaf auch Du
> Daniel Wodrell: Winter’s Bone (verfilmt von Debra Granik)
> Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex (1-3)
Jackie Thomae, aufgewachsen in Leipzig, lebt seit 1990 in Berlin. Sie schreibt Essays, Stories und Romane. Ihr Roman Brüder stand 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und erhielt den Düsseldorfer Literaturpreis.
Katy Derbyshire
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Ich bin in Großbritannien aufgewachsen, wo der Begriff zum Alltag gehört. Er ist Teil meiner Identität; ich stelle immer wieder fest, ich verstehe mich gut mit anderen, die einen ähnlichen Klassenhintergrund wie ich haben. Gleichzeitig ist Klasse in GB eine große Barriere, auch wegen des Bildungssystems. Ist er das in Deutschland auch, wo die Herkunft verdeckt mitentscheidet, auf welche Art Schule Kinder kommen? Vermutlich ja.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
In der Sprache: Menschen mit Arbeiterklassenhintergrund benutzen in GB andere Wörter für die Zimmer in ihrer Wohnung, für die Mahlzeiten, für Verwandte, haben andere Akzente. In Sachen Bildung: Ich war auf einer öffentlichen Gesamtschule, keine Privatschule mit den dazugehörigen Privilegien fürs weitere Leben. Und im Auftreten: Ich habe kein anerzogenes Selbstbewusstsein, fühle mich nicht automatisch dort wohl, wo die Macht sitzt und wo ich die Regeln nicht kenne. Dafür im Geschmack: Musik, Wohnungseinrichtung, Kleidung, vielleicht sogar Literatur – ja, das vermute ich stark, wo ich darüber nachdenke.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Nein, ich stehe zu diesem Hintergrund, bin stolz auf meine Vorfahren, die hauptsächlich Textilarbeiter*innen waren, in Familien wo die Frauen immer gearbeitet haben, wo sie sich im Fotostudio in der Schaffnerinuniform haben ablichten lassen. Und gleichzeitig haben sie sich mit der Welt beschäftigt, sind Fahrrad gefahren, haben Amateurtheater gespielt, Musik gemacht, waren politisch aktiv … Das waren Menschen, die das Beste aus ihrem harten Leben gemacht haben. Mir geht es viel besser, auch wegen ihrer Vorleistungen.
Warum setzt du dich mit dem Thema auseinander?
Weil es zu meinem Leben gehört, und weil ich aus der Ferne einen interessanten Blick darauf habe. Weil ich es in Deutschland schwieriger finde, anderen ihre Klasse abzulesen. Und weil ich merkwürdig finde, wie wenig hier darüber geredet wird.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
> Buch: Steal as Much as You Can von Nathalie Olah
> Musik: alles von The Specials
> Film: Quadrophenia
Katy Derbyshire, geboren in London, lebt seit 1996 in Berlin und ist Mitorganisatorin der Veranstaltungsreihe »Dead Ladies Show« im ACUD. Sie übersetzt zeitgenössische Literatur ins Englische und verlegt bei V&Q Books bemerkenswerte Bücher aus Deutschland.
Let’s talk about class #4
Am 10. September sind Dilek Güngör, Jackie Thomae und Katy Derbyshire zu Gast im ACUD. Sie sprechen mit Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer über Herkunft und Rechtfertigungsdruck, über Schwabenland, DDR und Großbritannien, über Fremdheiten und Eigenheiten.