Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

Das kleine Mädchen ist tot. Die Haushälterin sitzt im Verhör und wir auf der anderen Seite. Mein Name ist Estela, der zweite Roman der chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán, führt uns in die Abgründe zwischen Arm und Reich.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela (Cover)

Sieben Jahre lang hat Estela sich um den Haushalt und das Kind der reichen Familie gekümmert. Sieben Jahre lang hat sie sich erniedrigen lassen, ist unsichtbar geworden, um ihrer Mutter Geld aufs Land schicken zu können. Um sich irgendwann ein besseres Leben in der chilenischen Großstadt zu ermöglichen. Nun ist allerdings die kleine Julia tot, tragisch ums Leben gekommen, und das Dienstmädchen wird vernommen.

Estela sitzt allein in einem Zimmer und spricht zu einem nicht sichtbaren Gegenüber. Sie berichtet chronologisch von den Ereignissen, die sich in den letzten sieben Jahren im Haus ihrer Vorgesetzten zugetragen haben und entfaltet dabei eine Geschichte über Klassenunterschiede, unüberwindbare Gräben zwischen Arm und Reich und die scheinbar unlösbare Aufgabe, sich als Angestellte nicht selbst zu verlieren. Deshalb ist der Titel von Alia Trabucco Zeráns Roman Mein Name ist Estela bezeichnend für das gesamte Buch. Er kann als Akt der Selbstermächtigung, des Wortergreifens gelesen werden, sowie als das letzte Bisschen, was der Protagonistin bleibt – der eigene Name.

Besonders an Zeráns Roman ist für mich die Erzählhaltung. Wir sind die ganze Zeit über sehr nah dran an Estela, stecken in ihrem Kopf und haben trotzdem das Gefühl, die gesamte Szenerie und alle Charaktere zu erfassen. Gleichzeitig ist der Ton eher distanziert, teilweise rein berichtend, sodass die ganze Härte des Lebens als Dienstmädchen und Estelas Abgestumpftheit fühlbar werden.

Und natürlich schwebt über allem immer die Frage, was denn nun mit dem Mädchen passiert ist. Warum musste es sterben? Trägt Estela Schuld an ihrem Tod? Und zu wem spricht Estela da eigentlich? Immer wieder richtet sie sich direkt an ihr Gegenüber, doch ihre Worte scheinen im Raum zu verhallen. Ob auf der anderen Seite der Wand wirklich jemand sitzt, bleibt offen. Durch all diese verschiedenen Elemente wird über den gesamten Roman hinweg eine Spannung gehalten, die mich innerhalb kürzester Zeit eine Seite nach der anderen weglesen ließ.

Mein Name ist Estela ist ein beklemmendes Kammerspiel mit einer prägnanten Sprache, das nicht nur verschiedenste Facetten von Klassismus thematisiert, sondern auch einen thrillerartigen Sog beim Lesen entwickelt.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela | Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy | Hanser Berlin | 240 Seiten | 24 Euro | Erschienen im Februar 2024

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Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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