Christina Wessely: Liebesmühe

Ist man nach der Geburt eines Kindes sofort eine Mutter? In ihrem Buch Liebesmühe geht Christina Wessely indirekt dieser Frage nach und skizziert eine nahbare wie schmerzhafte Mutterwerdung.

Wessely, Liebesmühe, Cover

Sie hat gerade ein Baby geboren, aber so richtig will sich das viel beschworene »instinktive Muttergefühl« nicht einstellen bei der Protagonistin aus Christina Wesselys Buch Liebesmühe. Alles erscheint ihr plötzlich fremd: das Baby, um das sie sich jetzt kümmern soll, ihr altes Ich, der Alltag, ihre Glaubenssätze. Sie versteht sich eigentlich als Feministin, arbeitet als Wissenschaftlerin, wollte all dies auch nach der Geburt beibehalten und stößt nun doch an ihre Grenzen. Das alte und das neue Leben prallen mit voller Wucht aufeinander.

Sie versucht dennoch, sich in ihre neue Rolle einzufühlen, geht zur Rückbildung, besucht einen Yoga-Kurs mit Baby, vernetzt sich mit anderen Müttern, und doch findet sie keinen richtigen Zugang zu dieser neuen »Babywelt«. Schließlich schlittert sie in eine postpartale Depression und verspürt jeden Tag mehr eine »Trauer über den Verlust derjenigen, die sie einmal gewesen ist«. Als sie nach Monaten zum ersten Mal wieder für einen Vortrag zu einer Tagung fährt, also kurzzeitig in ihr altes Leben zurückkehrt, kann sie den Smalltalk und die Plattitüden der anderen, vor allem zum Thema »Babypause«, nicht ertragen. Sie hängt irgendwo zwischen den Realitäten, aber findet nach und nach ihren Weg und schließlich in genau die Mutterrolle, die für sie passend erscheint.

Obwohl ich nach der Geburt unseres Babys im September keine Depression entwickelt habe, konnte ich wirklich alles, was Wessely in ihrem Buch beschreibt, nachempfinden und habe mich selten so verstanden gefühlt. Die endlosen Spaziergänge, die Angst, das Baby könnte plötzlich schreien, das Gefühl des Festsitzens in der Wohnung, die Liebe zum eigenen Kind, die nicht sofort einfach da ist, sondern sich erst entwickelt, der Abgleich der eigenen Ideale mit dem, was gerade kräftemäßig überhaupt möglich ist – jap, kenn ich. Und ich bin mehr als froh, dass es Bücher wie Liebesmühe gibt, die solch ein ehrliches Bild von früher Mutterschaft zeichnen. Denn in unserer Gesellschaft gibt es immer noch viel zu viele Menschen, die Müttern weismachen wollen, was »normal« oder »natürlich« ist und so von Tag eins nach der Geburt Mom Guilt erzeugen.

Liebesmühe ist kein Roman, sondern vielmehr eine literarisch-essayistische Annäherung an das Thema Mutterschaft, gespickt mit Querverweisen aus der Kulturgeschichte. Obwohl die 176 Seiten teilweise schmerzhaft zu lesen sind (für Betroffene von postpartaler Depression wahrscheinlich noch viel mehr), schafft es die Autorin, einen poetischen wie ironischen Ton in die Geschichte und vor allem unglaublich viel Liebe für das Baby einzuweben. Dieses Buch ist klug, empathisch, stilistisch rund und für mich das beste, das es momentan über frühe Mutterschaft gibt.

Christina Wessely: Liebesmühe | Hanser | 176 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Februar 2024

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Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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