Die Last des Unausgesprochenen: In Heiße Milch von Deborah Levy begegnen wir einem Mutter-Tochter-Gespann, dessen Abhängigkeit voneinander unter der spanischen Sonne in Frage gestellt wird.
Sofia, eine junge Anthropologiestudentin, reist mit ihrer Mutter Rose nach Almería in Südspanien. Rose leidet an einer mysteriösen Krankheit, die sie am Gehen hindert und wird von ihrer Tochter gepflegt – mehr aus Pflichtbewusstsein und Routine als aus Liebe. In Spanien begeben sich die beiden in die Hände von Dr. Gómez, der als letzter Hoffnungsschimmer die Mutter heilen soll. Doch seine Methoden und Diagnosen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.
Zum ersten Mal seit Langem löst sich Sofia in der Hitze Spaniens ein wenig von ihrer Mutter, geht eine aufregende Liaison mit der Deutschen Ingrid ein und fragt sich, was die Mutter-Tochter-Abhängigkeit aus ihr gemacht hat und was von ihr als Individuum noch übrigbleibt. Ein Abstecher nach Athen zu ihrem Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen hat, soll Aufschluss bringen.
In ihrem 2016 auf Englisch und 2018 auf Deutsch erschienen Roman Heiße Milch seziert Deborah Levy eine einzigartige und doch exemplarische Mutter-Tochter-Beziehung, in der vieles unausgesprochen bleibt: eigene Wünsche, Vorstellungen vom Leben, Wut. Unter der gleißenden Sonne Almerías kocht das Ungesagte immer weiter hoch, wird begleitet von wunderbar skurril gezeichneten Nebenfiguren und mündet schließlich in einem kleinen Showdown.
Für mich stimmt bei diesem Roman einfach alles: Atmosphäre, Sprache, Figurenzeichnung. Levy versteht es, kluge Leerstellen zu setzen, Sätze zu formulieren, die bleiben, ein Romanpersonal zu kreieren, das weder gewöhnlich noch überdreht ist und die großen Fragen zwischen den Zeilen zu stellen. Ein faszinierendes Stück Literatur.
Die dazugehörige Verfilmung Hot Milk kam dieses Jahr in die Kinos und konnte mich ebenfalls überzeugen. Natürlich gestaltet sich der 90-minütige Film viel straffer als das über 300 Seiten lange Buch, aber beide Werke stehen für sich und können sich sehen lassen.
Deborah Levy: Heiße Milch | Kampa Verlag | Aus dem Englischen von Barbara Schaden | 304 Seiten | 13 Euro (TB) | Erschienen im Februar 2018