Und so wiederholt sich von Schule zu Schule das Schauspiel des Kampfes zwischen Gesetz und Geist, und immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister an der Wurzel zu knicken. Und immer wieder sind es vor allem die von den Schulmeistern Gehaßten, die Oftbestraften, Entlaufenen, Davongejagten, die nachher den Schatz unseres Volkes bereichern. Manche aber – und wer weiß wie viele? — verzehren sich in stillem Trotz und gehen unter.
Hans Giebenrath ist ein kluges Köpfchen, er stellt sich gut an in der Schule und wird deshalb ausgewählt, sich für das durchaus begehrte Landexamen zu bewerben. Dort würde er eine ausgezeichnete Ausbildung erhalten und könnte eine hoch angesehene, geistliche Berufslaufbahn einschlagen. Vom Ehrgeiz gepackt, von seinem Vater, den Lehrern im Dorf und dem Pfarrer angetrieben und unterstützt, gibt Hans alles, um die Aufnahmeprüfung in Stuttgart zu bestehen. Neben seinem Streben vergisst er jedoch, seine kindliche Freiheit zu genießen. Freunde hat er schon lang nicht mehr, auch geht er kaum noch in die Natur, die Bücher und Extrastunden bei Lehrern und dem Pfarrer bestimmen seinen Alltag. Glücklich ist er mit dieser Situation nicht, aber er will nicht versagen. Er will es den Menschen, die eigentlich wissen sollten, was für Hans das Beste ist, recht machen.
Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lenker der Jugend, vom Ephorus bis auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten sahen in Hans ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen müsse. Keiner […] sah hinter dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken.
Ein unheimlicher Druck lastet auf dem jungen Menschen, als er merkt, dass er womöglich einige Aufgaben im Examen falsch beantwortet habe. Letztendlich wird Hans aber aufgenommen, die Erwachsenen sind stolz auf ihn. Im Internat selbst kann er zunächst seinen Ehrgeiz noch halten, doch nach und nach schleicht sich die Pubertät in seinen Kopf und Körper, bis er schließlich wegen mangelnder Leistungen die Lehranstalt verlassen muss. Zurück in der Heimat bleibt ihm nun nicht mehr viel. Seine Kindheit ist verstrichen, ohne dass er sie je ausgelebt hat, mit Erschrecken stellt Hans fest, dass er langsam erwachsen wird und doch fehlt ihm ein Stück seines Heranwachsens. Es wurde geraubt, von den Erwachsenen um ihn herum, die in ihm nur den Leistungsschüler sahen und ihn nun fallen lassen.
[…] eigentlich ging Hans sie nichts mehr an. Er war kein Gefäß mehr, in das man allerlei hineinstopfen konnte, kein Acker für vielerlei Samen mehr; es lohnte sich nicht mehr, Zeit und Sorgfalt an ihn zu wenden.
Wie eine leere, ausgesaugte Seele trottet Hans fortan durch sein Heimatdorf. Einziger Lichtblick ist eine amouröse Anwandlung mit Emma:
Sie streckte ihm ihre Hand über den Zaun weg hin. Er nahm sie schüchtern und zärtlich und drückte sie ein wenig, da merkte er, daß sie nicht zurückgezogen wurde, faßte Mut und streichelte die warme Mädchenhand fein und vorsichtig.
Doch auch diese verschwindet so schnell aus seinem Leben wie sie gekommen war und stürzt Hans nur noch tiefer in seine Depressionen.
Hermann Hesse war 29 Jahre alt, als er 1906 Unterm Rad schrieb. Er selbst wurde in seiner Kindheit gezwungen, ein Landexamen abzulegen und den beruflichen Weg des Pfarrers einzuschlagen. Auch er wollte dies irgendwann nicht mehr, rebellierte, flüchtete sich wenig später in Suizidgedanken. Nach einem missglückten Selbstmordversuch wurde er schließlich in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Der spätere Literaturnobelpreisträger hat in erster Linie seine Eltern für diese misslungene Jugend verantwortlich gemacht und seine Geschichte schließlich in Unterm Rad verarbeitet. Dieses Buch zeigt einerseits, wie konservativ und prestigesüchtig die Gesellschaft in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts noch war. Andererseits konnte ich auch einige Parallelen zu heutigen Erziehungsmethoden und zu unserem Schulsystem, jedenfalls so, wie ich es erlebt habe, erkennen. Leistungen in der Schule werden gesellschaftlich hoch angesetzt. Eine Note sagt allerdings rein gar nichts über einen Menschen aus. Immer wieder wurde uns von Lehrern und Eltern eingebläut, wie wichtig es sei, gut in der Schule zu sein. Im Nachhinein interessieren unsere Schulnoten doch nun wirklich niemanden mehr, weil, meiner Meinung nach, doch jeder seine oder ihre Nische in diesem Land finden kann. Beim Lesen machte es mich unendlich traurig, wie sehr die formal Mündigen einen jungen Menschen so zerstören können. Nicht umsonst gehören Hesses Werke zu den Klassikern der deutschen Literatur. Unterm Rad ist zeitlose Lektüre und so aktuell wie jeher. Menschen, die an der Erziehung eines Kindes beteiligt sind, sollten dieses Buch als Pflichtlektüre auf ihrem Nachtisch liegen haben.
Unterm Rad
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-36552-5
erstmals 1906 erschienen
So, jetzt bin ich schon wieder neugierig auf das Buch.
Es ist soeben auf meiner Wunschliste gelandet. Danke Ldüa 😉
Oooh das freut mich!!! Ldüa! 🙂