Sagen Literaturpreise etwas über die Qualität der prämierten Werke aus? Im Fall von Koala (Wallstein Verlag) kann ich diese Frage klar mit „Ja“ beantworten. 2014 erhielt Lukas Bärfuss für seinen zweiten Roman den Schweizer Literaturpreis. Meiner Ansicht nach vollkommen zu Recht. Koala ist ein ganz besonderes Buch: mit scharfem Geist durchdacht und sprachlich wunderbar umgesetzt.
Lukas Bärfuss’ autobiografischer Roman spielt – wie sollte es anders sein – in der Schweiz. Der Ich-Erzähler kehrt widerwillig für einen Vortrag über Kleist in seine Heimatstadt zurück. Dort trifft er auf seinen Halbbruder, den er nur selten sieht. Beide sind sehr verschieden und haben sich nicht sonderlich viel zu sagen:
Wenn es eine Vertrautheit zwischen uns gab, dann beschränkte sie sich auf ein komplizenhaftes Schweigen, ein Reden in Andeutungen, das niemals auf den Grund der Dinge stieß.
Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit. Er ist nur indirekt mit seinem Bruder aufgewachsen, welcher das Heimatstädtchen nie verließ. Ganz anders der Ich-Erzähler. Er ist froh, als er nach seinem Vortrag den bedrohlich kleinen und engen Ort wieder verlassen kann:
[…] als ich mich endlich in einem Abteil niederließ und sich der Zug in Bewegung setzte, sagte ich mir, dass alles schlimmer hätte enden können und das Wiedersehen mit meiner alten Heimat glimpflich verlaufen sei. Meinen Bruder aber habe ich nie wieder gesehen.
Der Bruder begeht kurz darauf einen sehr gut geplanten Selbstmord. Der Ich-Erzähler ist erschüttert, doch weiß er nicht so recht, wie er sich nun verhalten soll. Zu oberflächlich war die Beziehung zu seinem Bruder in den letzten Jahren. Schließlich erinnert er sich an den Spitznamen des Verstorbenen: „Koala“. Er fängt an, darüber nachzudenken, was dieses Tier mit seinem Bruder zu tun hat. An dieser Stelle geht die Erzählung in eine Kolonialgeschichte über. Die Besiedelung Australiens durch die Briten wird ausführlich beschrieben. Der Koala dient dabei als strukturierendes Erzählelement. Nur durch die einsetzende Kolonialisierung des Landes wurde dieses Tier vor seiner Ausrottung bewahrt. Die Erzählstimme erläutert, dass der Koala von der Natur nicht unbedingt mit nützlichen Eigenschaften gesegnet wurde und es deshalb ein wahres Wunder ist, dass er heute noch existiert:
George Perry, der englische Schneckenforscher, schrieb, unter allen seltsamen Tieren, die aus der Neuen Welt bekannt seien, gebühre dem Koala bestimmt ein besonderer Platz, und wenn man seinen ungeschickten und unbeholfenen Körper betrachte, ganz abgesehen von seiner seltsamen Physiognomie und seinem bizarren Lebenswandel, dann fehle einem jede Erklärung, zu welchem Zwecke der große Autor der Natur ein solches Wesen erschaffen haben mochte.
Zum Ende kehrt der Plot dann zurück in die Gegenwart. Der Ich-Erzähler besucht die Beerdigung seines Bruders und beschäftigt sich, zurück am heimischen Schreibtisch, auf philosophische Weise mit der Beziehung des Menschen zur Arbeit.
Koala ist ein durchweg kluges Buch, das zudem auch noch sehr schön gestaltet wurde. Bärfuss gelingt es, das sensible Thema Suizid und Gesellschaft neu zu beleuchten:
Es war eine Lüge, zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand. Im Gegenteil. Jeder verstand sie nur zu gut. Denn die Frage lautete nicht, warum hat er sich umgebracht? Die Frage lautete: Warum seid ihr noch am Leben?
Koala nähert sich der Selbstmordthematik auf behutsame und philosophische Weise. Jeder Mensch verarbeitet den Suizid eines Angehörigen/einer Angehörigen anders. Für den Ich-Erzähler ist die Erkundung der Geschichte des Tieres, das dem Bruder seinen Spitznamen verlieh, die passende Form, mit dem Selbstmord umzugehen.
Die schwere Kost einer historischen Kolonialthematik verpackt Bärfuss mit einer Leichtigkeit, dass es mir eine Freude war, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. So schafft es der Autor, durch die kunstvolle Verknüpfung von Fiktion und Faktualität ein Stück Geschichte zu erzählen, ohne dabei belehrend zu wirken. Ich muss natürlich zugeben, dass meine Erwartungshaltung an das Buch nach den ersten Seiten eine völlig andere war. Eine Geschichte über die Besiedelung Australiens, die sich über die Hälfte des Buches erstreckt, hatte ich keinesfalls kommen sehen. Zunächst irritierten mich die ersten Seiten dieser Erzählebene und ich fragte mich, wann das Ich-Erzähler-Bruder-Verhältnis wieder in den Mittelpunkt rückt. Doch gerade dieses Spiel mit Leseerwartungen ist für mich das Spannende und auch Kreative an diesem Buch.
Das Offensichtliche spart Bärfuss immer wieder bewusst aus und schafft Leerstellen, die die Lesenden selbst ausfüllen können. Auch sprachlich ist Koala ein Glanzstück. Klare Formulierungen, die ästhetisch anmuten, schaffen ein angenehmes Leseerlebnis. Dieses innovative Erzählkonzept gepaart mit einem ganz eigenen Sprachstil macht Koala zu einem bereichernden Stück Literatur.
Lukas Bärfuss
Koala
Wallstein Verlag
ISBN: 978-3-8353-0653-0
2014 erschienen
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