Vogelflöten, Ornithologielexika, Naturkundemuseum – all das durfte ich in den letzten Wochen in einem ganz besonderen Seminar an der Freien Universität Berlin kennenlernen. Die österreichische Autorin und Künstlerin Teresa Präauer hat dort in diesem Semester die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur inne und gibt ein Seminar mit dem Titel „Poetische Ornithologie“. In der kommenden Sitzung sprechen wir über ihren Debütroman Für den Herrscher aus Übersee (Wallstein).
Teresa Präauer ist nicht nur eine begnadete Vogelflötenspielerin. Sie hat vor allem die Gabe, ihre Begeisterung für ein Thema mit anderen zu teilen, andere Menschen mit dieser Begeisterung anzustecken. Dabei betont sie immer wieder, dass sie keine besonders große Tierfreundin sei, es aber äußerst interessant finde, wie der Mensch versucht, Tiere zu klassifizieren und anthropomorphisieren. Dieses Interesse spricht auch aus ihrem 2012 erschienenen Debütroman. Natürlich geht es in Für den Herrscher aus Übersee um Vögel und um das Fliegen. Aber auch stilistisch hat das 137 Seiten dünne Buch viel zu bieten.
Die Erzählstruktur des Romans besteht aus drei Teilen. Drei Geschichten werden aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt und geschickt ineinander verwoben. Der Urlaub zweier Brüder auf dem großelterlichen Bauernhof ist eine der drei Ebenen. Wir erleben diese Ferien aus der Sicht des jüngeren Bruders. Die Eltern der beiden Kinder sind gerade auf Reisen, schicken ihnen aber Tag für Tag eine Postkarte aus den fernen Ländern. Die beiden Jungs stört die Abwesenheit der Eltern nicht sonderlich, haben sie doch allerhand auf dem Bauernhof der Großeltern zu tun. Die Eier müssen jeden Morgen aus dem Hühnerstall geholt werden, Fluggeräte werden gebaut und getestet, ein gefundenes Ei muss ausgebrütet werden und der Großvater erzählt tolle Geschichten über das Fliegen. Der war nämlich selbst einmal ein Pilot. Durch seine Berichte wird die zweite Erzählebene fassbar. Auf einem seiner Flüge, damals, als er noch ein junger Pilot war, verliebt er sich in eine Japanerin. Die junge Frau ist ebenfalls mit dem Flugzeug unterwegs, jedoch abgestürzt und gestrandet. Der Großvater findet sie und versucht nun, ihr Fluggerät zu reparieren. Dabei malt er sich eine Zukunft mit der hübschen Japanerin aus. Beide verbringen augenscheinlich eine romantische und unbeschwerte Zeit miteinander:
Da kommt ihm die Japanerin dazwischen und küsst ihn auf den Mund. Sie schmiegen sich aneinander und rollen so durchs Gras, an den Köpfen etwas stärker als an den Füßen unten[…]. Ein schöner Tanz ist das, sagt der Großvater, und die Wiese hat nichts dagegen.
An Stellen wie diesen zeigt sich Präauers genaue Beobachtungsgabe. Mit einfachen Sätzen schafft sie es, die erzählten Szenen vor den lesenden Augen lebendig werden zu lassen. Dabei hilft vor allem der Wechsel zwischen parataktischen und syntaktischen Sätzen. So bekommt das Erzählte eine ganz eigene Melodie, einen Rhythmus. Sowohl beim Lesen des Buches als auch jetzt noch sehe ich klare Bilder und Handlungsabläufe vor meinem inneren Auge. Präauer benennt Geschehnisse mit konkreten Begrifflichkeiten und erzeugt so eine authentische Erzählweise.
Bei aller Zuneigung, die aus dem vorherigen Zitat spricht, muss der Großvater leider irgendwann einsehen, dass die junge Japanerin nicht so fühlt wie er. Doch das ist gar nicht schlimm. Sonst gäbe es die Großmutter und die beiden Enkelsöhne schließlich nicht, die er doch sehr liebt. Sein Umgang mit ihnen und vor allem seinen Tieren ist aber auch von einer gewissen Brutalität gekennzeichnet:
Der Großvater stöhnt, ja!, er entreißt der Großmutter die Flinte und richtet ihren Lauf auf die Voliere. Peng-peng-peng! Er schießt das Magazin leer – und trifft jedesmal daneben.
Zunächst scheint diese Stelle etwas schockierend, schließlich schauen doch die beiden Kinder dabei zu. Aber gleich danach reflektiert der ältere Bruder die Situation:
Einfach aus Lust, sagt der Bruder später, einfach weil er sich messen wollte und dabei kurz vergessen hat, wie sehr er die Vögel, und besonders die Ziervögel, liebt.
Hier zeigt sich die Besonderheit der kindlichen Erzählperspektive, die die Autorin gewählt hat. Oft gelingt es AutorInnen nur schlecht aus der Sicht eines Kindes zu erzählen. Präauer schafft es in ihrem Debütroman, durch Kinderaugen zu sehen, ohne dabei etwas zu beschönigen oder zu verklären. Die Autorin zeigt, wie Kinder über das Verhalten des Menschen nachdenken und dabei Dinge teilweise konkreter benennen können als jegliche Erwachsene. Nebenbei beleuchtet der Text hier auch die Ambivalenz zwischen Tierliebe und Macht über die Tierwelt. Eine weitere Szene, die diesen Kontrast noch einmal verstärkt, ist die Schlachtung des Lieblingshuhns der beiden Brüder. Obwohl sie den Großvater darum bitten, ein anderes Huhn auszuwählen, köpft dieser bewusst genau jenes, welches die Brüder am liebsten haben:
Man muss sich trennen können von dem, was man liebt, sagt er, nimmt den noch flatternden Körper des Tieres, zieht einen kleinen, farbigen Ring von seinen Krallen, kickt uns das Ding entgegen […].
Der Mensch will das Tier oft nachahmen. Vor allem Vögel sind Vorbilder für das Fliegen. Doch so sehr die Tiere vom Menschen bewundert werden, genauso intensiv ist die Macht, die der Mensch über das Tier haben will. In Für den Herrscher aus Übersee werden beide Komponenten beleuchtet: Tierliebe und Tiernutzung.
Dass beides ganz ohne Brutalität möglich ist, zeigt die dritte Erzählebene. Aus der Perspektive einer Flugpionierin erfahren wir, wie es sich anfühlt, mit einem Vogelschwarm über verschiedenste Landschaften und Gewässer zu fliegen.
In einem bohnenförmigen Fluggerät, unten drei Räder, hinten ein Propeller, oben ein weißer Schirm, der geschnitten ist wie ein Lindenblütenblatt, sitzt, den Helm über den Kopf gezogen, die Handschuhe über die Finger, ein Tuch um den Mund, die Fliegerin.
Die Figur der Fliegerin geht wahrscheinlich zurück auf die historische Flugpionierin Amelia Earhart, die in den 1930er Jahren großes Aufsehen als erste weibliche Pilotin der Geschichte erregte. Präauers Flugpionierin fliegt mit einem Schwarm von Vögeln. Von ihnen lernt sie. Die Vögel sind ihre Begleiter und Freunde und die Flugpionierin gleicht sich ihnen an, nicht umgekehrt. So durchstreift die junge Fliegern ganz unabhängig von den anderen beiden Erzählsträngen das Buch. Diese Ebene gibt dem Gesamtplot einen historischen Bezugspunkt, den Präauer höchst literarisch verpackt. Zwar berichtet die Flugpionierin nicht aus der Ich-Perspektive, doch hatte ich beim Lesen das Gefühl, ich säße hinter ihr im Cockpit.
Für den Herrscher aus Übersee ist ein Gesamtkunstwerk. Wie auch bei Johnny und Jean, dem zweiten Buch der Autorin, scheint Präauer auch hier einen Pinsel in der Hand zu halten, mit dem sie den Plot ihres Debüts viel mehr malt als schreibt. Mit einfachen Mitteln lässt sie fantastische Bilderfolgen im Kopf der LeserInnen entstehen. Ihr federleichter Schreibstil schmiegt sich dabei wie von selbst an das Geschriebene und scheint damit zu verschmelzen. Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem Form und Inhalt so gut zusammenpassen.
Teresa Präauer
Für den Herrscher aus Übersee
Wallstein
ISBN: 978-3-8353-1092-6
2012 erschienen
[…] Poetischen Ornithologie bei Teresa Präauer im (mittlerweile) vergangenen Sommersemester habe ich hier bereits berichtet. Wie ich durch dieses Seminar auf ein neues Buch aufmerksam wurde, noch nicht. […]