Von meinem Seminar der Poetischen Ornithologie bei Teresa Präauer im (mittlerweile) vergangenen Sommersemester habe ich hier bereits berichtet. Wie ich durch dieses Seminar auf ein neues Buch aufmerksam wurde, noch nicht. Während des Semesters war es die Aufgabe der SeminarteilnehmerInnen, einen literarischen Essay zu einem Thema aus der Ornithologie zu verfassen. Ich entschied mich für die Ergründung des Phänomens Irrgast und stieß dabei auf den gleichnamigen Debütroman von Mireille Zindel.
Ein Vogel wird in der Ornithologie als Irrgast bezeichnet, wenn er während des Vogelzugs gewissermaßen vom Weg abkommt. Die gestrandeten Vögel tauchen dann in Gegenden auf, welche weit entfernt sind von ihren eigentlichen Brutplätzen oder Überwinterungsquartieren. Meist finden die verirrten Vögel nicht in ihre angestammten Gebiete zurück und finden an dem neuen Ort einen früheren Tod.
Die Schweizer Schriftstellerin Mireille Zindel hat dieses Motiv in ihrem 2008 erschienenen Debütroman Irrgast (Salis Verlag) literarisch verarbeitet und auf ihre Hauptfigur Eli angewendet. Eli ist 35 Jahre alt, Ärztin und lebt in Zürich. Ihrem Beruf geht sie momentan, zumindest in der erzählten Zeitspanne, nicht nach. Eli steht unter Schock, denn sie musste mit ansehen, wie ihr Freund Elias vor ihrer Haustür erstochen wurde. Der Fall erweckt großes Aufsehen. Ein Detektiv wird eingeschaltet. Er und sein Assistent ermitteln fortan im Fall Elias. Doch aus Eli bekommen sie nicht viel heraus. Sie kann sich nicht an das Aussehen des Mörders erinnern und schweigt deshalb vehement. Die nächsten Tage fühlt sich Eli vollkommen deplatziert in der Welt. Sie versinkt in Depressionen und verlässt nur für Spaziergänge am See das Haus. Ziellos irrt sie in einer Welt umher, die nicht mehr die ihre zu sein scheint. Aber da ist noch Anna, die ihr eines Tages plötzlich folgt, ihr zuhört, mit ihr redet und Elis einziger sozialer Kontakt wird. Anna scheint die Verirrte aufzufangen, sie in einem bildlichen Sinne als Gast aufzunehmen. So wird Eli zum Irrgast. Bei einem ihrer Spaziergänge untermauert sie diese Parallele zwischen ihrer Person und den Vögeln:
Wenn eine Ente oder eine Möwe oder ein Schwan auftaucht, schaue ich auf. Ich beobachte das Tier. Ich werde zum Tier. Ich kann nicht anders.
Die Autorin schafft es so, die Verbindung Mensch – Tier in ihrem Roman zu thematisieren. Immer wieder wird indirekt auf das Motiv des Irrgastes rekurriert.
Eli wird diagnostiziert, dass sie unter einer Amnesie leide, die nach traumatischen Erlebnissen normal sei. Hier eröffnet sich ein Teil des Irrgast-Motives, welches den Vögeln und Eli gleich ist: das Nicht-Erinnern.
Eine weitere Komponente des Hauptmotives ist die Beobachtung. Die verirrten Vögel werden gern von OrnithologInnen beobachtet und in der Vogelkunde als aufsehenerregendes Phänomen gehandelt. Auch Eli wird beobachtet, von Anna, aber auch von sich selbst. Eli filmt sich in ihrer eigenen Wohnung und schaut sich die Kassetten danach gelegentlich an.
Auch wenn Eli sich erinnert, dass sie Elias vor seinem Tod besuchen musste, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, erinnert dies an den Magnetsinn der Vögel. Dieser natürliche Magnetsinn scheint im Falle der Irrgäste allerdings nicht einwandfrei zu funktionieren, bei Eli wiederum fällt dieser Magnet mit Elias’ Tod weg.
Weiterhin wird das Hauptmotiv des Buches sehr direkt in die Handlung eingeflochten, wenn die Biologin Anna der Vogelkunde nachgeht:
Wir müssen an den Thunersee! Ein Irrgast ist aufgetaucht!
Für mich hätte der Plot diesen direkten Verweis auf den ornithologischen Irrgast nicht gebraucht. Ich hätte es angenehmer gefunden, wenn das Motiv ganz ohne direkte Nennung in das Buch eingeflossen wäre.
Abseits des Hauptmotivs liest sich Zindels Roman fast wie ein Krimi. Die Frage, wer denn nun Elias umgebracht hat, wird erst am Ende aufgelöst. Auch das Verhalten Elis wirft nach und nach immer mehr Rätsel auf. Als sie beginnt, das Haus nicht mehr zu verlassen, um Anna im Haus gegenüber zu observieren, offenbart sich schrittweise der psychische Zustand der Hauptfigur.
Allerdings nimmt die Spannung kurz vor der Klärung des Mordfalls ein wenig ab, da dessen Bedeutung angesichts Elis Verhaltensweisen immer weiter in den Hintergrund rückt. Ab der Mitte des Buches wird deutlich, dass Irrgast kein reiner Krimi ist, sondern eher ein vielschichtiger Roman mit spannenden Elementen.
Mireille Zindel hat sich in ihrem klugen Debüt intensiv mit dem ornithologischen Irrgast-Phänomen beschäftigt. Die Autorin setzt dieses aus der Natur entnommene Motiv gekonnt in einen literarischen Kontext. Diese Themensetzung ist das Besondere an Irrgast und bezeugt die literarische Handfertigkeit der Autorin.
Mireille Zindel
Irrgast
Salis Verlag
ISBN: 978-3-905801-07-1
2008 erschienen
Schon viel früher wurde das Motiv 1983 von Gabriele Wohmann in der Erzählung „Der Irrgast“ aufgegriffen.
Ah, sehr interessant, das wusste ich bisher noch nicht. Vielen Dank für den Hinweis!
Liebe Juliane,
das ist eine sehr gut geschriebene Zusammenfassung. Vielen Dank dafür!
Leider konnte ich auf der Verlagsseite keine Leseprobe finden. Das hätte mich noch interessiert. 🙂 Aber vielleicht kaufe ich es mir einfach so. Spannend scheint es auf jeden Fall. Der Titel „Irrgast“ zusammen mit dem von Dir beschriebenen Aufbau der Geschichte reizt mich sehr.
Ich werde hier auf Deinem Blog noch etwas weiterlesen und hoffe auf den ein oder anderen Lesetipp.
Herzlich
Mea
Liebe Mea,
es freut mich, dass du über den „Irrgast“ auf meinen Blog gefunden hast. Das passt doch irgendwie ganz wunderbar zusammen! 😉
Stimmt, es gibt auf der Verlagswebsite keine Leseprobe. Schade. Aber ich denke, du wirst nicht enttäuscht sein von der Story.
Schau dich gern um, ich freue mich über jeden Kommentar. 🙂
Liebe Grüße
Juliane
Mir ist das Motiv vorher ebenfalls noch nicht begegnet in der Literatur und wie bereits erwähnt, war es auch eher ein Zufallsfund. Aber das war auch der Ansatz unseres Seminars. Wir sollten Dinge aus der Tierwelt betrachten und dann schauen, wo man sie in der Literatur wiederfindet bzw. welche Verbindungen zwischen Tierwelt und literarischer Welt gezogen werden können.
Im Seminar haben wir zum Beispiel Texte von Otto Lilienthal und William Lishman gelesen. Die waren vordergründig eher sachlich, aber trotzdem haben wir dann ergründet, inwieweit die verwendete Sprache doch eine literarische ist. In einer Stunde haben wir uns ausgiebig mit einem Gedicht von E. E. Cummings beschäftigt. Das war auch sehr inspirierend. Ich glaube, die „Poetische Ornithologie“ war eines der besten Seminare, das ich je an einer Uni belegt habe. 🙂
Das ist ein interessantes Thema bzw. Motiv, das mir so noch nicht in der Literatur begegnet ist. Welche Texte habt ihr noch im Seminar gelesen?