Katharina Winkler: Blauschmuck

Gewalt. Gewalt. Gewalt. Als Blauschmuck (Suhrkamp), Debütroman der Autorin Katharina Winkler, im vergangenen Februar erschien, habe ich mich zunächst nicht weiter dafür interessiert. Die Rezensionen im Feuilleton und auf den anderen Literaturblogs habe ich am Rande mitbekommen. Es gehe wohl um Gewalt, diese sei auf brutalste Weise dargestellt. Manchen Leser*innen fiel es sogar schwer, dieses Buch überhaupt bis zum Ende zu lesen, die Gewalt zu ertragen. Ich wurde neugierig. „Wird schon nicht so schlimm sein“, dachte ich mir nun und fing an zu lesen. Und doch, es ist schlimm: Die Beschreibungen sind einfach nur krass und kaum auszuhalten. Und trotzdem sage ich euch: Lest dieses Buch!

Katharina Winkler Blauschmuck

Der Roman beginnt mit einer harmonischen Szene. Das kurdische Mädchen Filiz liegt mit ihren sechs Geschwistern im Heu, ihre Mutter verbrennt Kuhdung, um die Fliegen zu vertreiben, es gibt Kindergekicher. Filiz ist ungefähr zehn Jahre alt. Sie weiß es nicht genau. Ihr Vater ist nur bei jedem zweiten Neugeborenen in die weit entfernte Stadt gelaufen, um die Kinder registrieren zu lassen. Es scheint, als lebe Filiz ein friedliches Leben auf dem türkischen Land mit ihrer Familie. Durch ihre Kinderaugen sehen wir einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen:

Hinter dem Rauch funkeln die Sterne. Der hellste gehört mir.

Doch schon auf der nächsten Seite zeichnet sich ab, dass Filiz’ Zuversicht bald gebrochen werden wird. Durch Filiz’ Augen sehen wir uns die Frauen des türkischen Dorfes an. Sie alle tragen den Titel gebenden „Blauschmuck“. Zunächst assoziiere ich beim Lesen noch wirkliche Schmuckstücke mit Filiz’ Beschreibungen, doch als klar wird, welchen Ursprung der Blauschmuck hat, stockt mir der Atem und ich muss die Seite noch einmal lesen:

Der Blauschmuck der Frauen trägt die Handschrift der Männer. Das Werkzeug, Holz oder Eisen, und die Anzahl der Schläge bestimmen den Blauton.

Auch Filiz’ Vater ist einer dieser Männer, auch Filiz’ Mutter trägt Blauschmuck, auch vor seinen Kindern macht der Vater nicht Halt. Für ihn ist die Ehre das allerhöchste Gut in der Welt. Verhalten sich die Kinder unehrenhaft oder erledigen ihre Aufgaben in Haus und Hof nicht zu seiner Zufriedenheit, bekommen sie Schläge. Bis zur Ohnmacht verprügelt er Frau und Kinder. Das alles beschreibt die kleine Filiz mit einem sehr nüchternen, rein beobachtenden Ton. Es sind Kinderaugen, durch die wir diese Geschichte miterleben. Kinderaugen, die unglaublich erwachsen wirken, weil sie dazu gedrängt werden. Doch noch ist Filiz voller Hoffnung, auch wenn sie jeden Tag anhand der Frauen um sie herum sieht, wo ihr Leben hinführen könnte.

Sie sieht zwei Möglichkeiten, dem Unheil zu entkommen. Die erste ist ihr Lehrer. Filiz ist eine sehr gute Schülerin, sie hat Spaß am Lernen. Ihr Lehrer empfiehlt dem Vater, sie auf eine Schule in die Stadt zu schicken. Der Vater hat für diesen Vorschlag nur ein Wort übrig: Nein. Die zweite Chance sieht Filiz in Yunus. Yunus ist drei Jahre älter als sie. Filiz verliebt sich in Yunus, erst Recht, als er nach einigen Jahren in Deutschland mit Jeans in das kurdische Dorf zurückkehrt und um Filiz’ Hand anhält. Aber auch hier kennt der Vater nur eine Antwort: Nein. Doch dieses Mal will Filiz für ihren Traum einstehen. Den Traum von Yunus an ihrer Seite, den Traum eines besseren Lebens, den Traum von Jeans an ihren Beinen.

Man muss den Knopf einer Jeans öffnen, den kupferfarbenen oder silbernen, man muss den Reißverschluss nach unten ziehen […] den schmal gewordenen Fuß durch den zweiten blauen Tunnel stecken und auf den Boden stellen, der erste Schritt in ein neues Leben.

Während Filiz bei der Beschreibung der Gewalterfahrungen lediglich in einfachen Hauptsätzen spricht, verarbeitet sie ihre Träume und Vorstellungen einer rosigen Zukunft zwar auch parataktisch, aber eher in einer Art Bewusstseinsstrom. Sie gerät ins Schwärmen. Die Jeans steht für Freiheit, eine bessere Welt. Zum ersten Mal in ihrem Leben widersetzt sie sich ihrem Vater und haut mit Yunus ab, das bessere Leben immer vor Augen.

Doch schnell merkt Filiz, dass dies ein Trugschluss war. Yunus und Filiz heiraten, ziehen bei seiner Mutter im Nachbardorf ein und Filiz wird zur Dienerin. Von Liebe keine Spur, stattdessen dominieren Vergewaltigungen und Schläge. Zu ihrer eigenen Familie kann Filiz nicht zurückkehren, sie wurde durch ihre Flucht entehrt. Immer wieder sagt sie, dass ihr Vater jetzt keine Tochter mehr habe und dass Yunus’ Mutter jetzt auch ihre sei. Doch egal, wie oft sie sich „Yunus’ Mutter, die nun meine Mutter ist“ vorbetet, kann sie nicht verleugnen, dass die Schwiegermutter nichts anderes als eine „Spinne“ ist. Filiz muss putzen, kochen, dem Mann sexuell zur Verfügung stehen, Kinder gebären und stumm sein, wenn man es von ihr verlangt. Wenn sie mit anderen Männern spricht oder sie nur anschaut, wird sie von Yunus verprügelt. Auch sie trägt jetzt Blauschmuck.

Eine Auswanderung nach Österreich scheint die Rettung für Filiz und ihre mittlerweile drei Kinder zu sein. Zumindest entkommt sie der Schwiegermutter. Doch auch hier beherrschen häusliche Gewalt, Vergewaltigungen und Eingesperrtsein Filiz’ Leben. Wie schon die Gewalt ihres Vaters beschreibt sie nun die Attacken ihres Ehemannes mit „Schlag. Um Schlag.“ bis sie schließlich den Lebensmut verliert.

Auch im späteren Verlauf scheint die bloße Beschreibung der Geschehnisse ein Schutz- und Überlebensmechanismus für Filiz zu sein. Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz. Obwohl Filiz ihre Gefühle nie kommentiert, habe ich beim Lesen große Schmerzen empfunden. Ja, die Lektüre wurde teilweise unerträglich. So viel Gewalt, so viel Hass und diese schrecklichen Vergewaltigungen. Aber das ist die große Stärke des Buches. Jeder einfache Satz in dieser Geschichte trägt so viel Bedeutung, wie sie manche Autor*innen nicht auf zehn Seiten erzeugen können.

Katharina Winklers Sprache ist hochpoetisch und entfaltet sich auf erstaunliche Weise in diesem reduzierten Satzbau. Dabei arbeitet sie mit Metaphern, die gezielt eingesetzt sind und ihren Dienst erfüllen, beispielsweise wenn es darum geht, dass Filiz’ Schwester bald das Reiten verboten wird, sie zur Frau wird und nur noch hinterm Herd zu stehen hat: „Dort wird sie Mutter helfen, und der Wind wird ihr aus den Kleidern fallen.“ Solche Metaphern, aber vor allem der Vorsatz des Buches: „Nach einer wahren Lebensgeschichte“, schüren die Traurigkeit in mir darüber, dass es solch eine Behandlung von Frauen auf der Welt immer noch gibt.

Die Autorin scheint mit ihrem Roman auf den ersten Blick ein gefundenes Fressen für Islamkritiker*innen bereitzustellen. Bevor nun aber die Zeigefinger der besorgten Wutbürger*innen hochschnellen, sei hier gesagt: Für mich steht Blauschmuck vor allem beispielhaft für häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in Ehen weltweit.

Mit ihrem Debüt Blauschmuck ist Katharina Winkler ein großer erster Wurf gelungen. Ihr gelingt das, was ich mir von Literatur erhoffe: Sie schockiert, rüttelt wach und holt die Leserschaft aus dem Becken der seichten Themen. Dabei arbeitet die Autorin ihren ganz eigenen Stil heraus und verbindet ein grausames Thema mit hochpoetischer Sprache. Ich bin begeistert und schon gespannt auf das nächste Werk dieser neuen, markanten Stimme im Literaturbetrieb.

Weitere Besprechungen findet ihr u. a. auf Literaturen, Das graue Sofa und 54books.

Katharina Winkler Blauschmuck

Katharina Winkler

Blauschmuck

Suhrkamp

ISBN: 978-3-518-42510-7

erschienen am 8.2.2016

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

10 Kommentare

  1. [Das Debüt 2016]: Shortlist – Durchsicht – Entscheidung – Lesen macht glücklich

    […] Poesierausch […]

  2. Wortlichter

    Ich weiß nicht ob ich das Buch lesen soll. Denn zu viel Gewalt mag ich eigentlich nicht. Ich fühle mich dann immer etwas voyeuristisch. Besonders da Blauschmuck ja eine Geschichte ist, die auf wahren Ereignissen beruht.
    Ich weiß dass solche schlimme Geschichten existieren, habe auch schon mit Frauen geredet, denen so etwas zugestoßen ist, aber ich weiß nicht ob es sinnvoll ist, mich auf diese Gewalt einzulassen. Ich kann es mir vorstellen, aber mitleiden, dass empfinde ich irgendwie komisch, schon fast „nicht richtig“. Weil es ist eine Erfahrung, die ich in Echt wohl hoffentlich nie machen werde und darum auch nie in ihrer Schmerzlichkeit begreifen kann. Und gibt es etwas, was ich daraus mitnehmen oder lernen kann? Wo ich doch weiß, wie grausam die Welt ist und wie sehr manche Frauen leiden müssen? Verstehst du meinen Zwiespalt?

    Ich habe ein ganz wundervolles Interview gehört mit Katharina Winkler. Man findet es auf dem Logbuch Suhrkamp, falls es dich interessiert. Die Autorin sagt darin, dass das Buch sich durch seine Sprache schützt. Dass es hoffentlich keine Angriffsfläche bietet, weil es nicht über die Religion geschrieben ist, sondern über die Gewalt. Und weil die Sprache eine Sprache ist, die nicht für das rassistische Klientel gedacht ist. Diesen Gedanken finde ich besonders beeindruckend: ein Buch was sich durch die Sprache schützt.

    Lg, Anja

    • Liebe Anja,
      vielen Dank für deinen Kommentar. (Ich mag deine Kommentare immer sehr, weil du dir viele Gedanken zu den Texten machst!)
      Ich kann deine Einwände und deinen Zwiespalt vollkommen nachvollziehen. Auch ich hatte beim Lesen teilweise das Gefühl, dem Schmerz der Protagonistin nicht gerecht zu werden. Also nur zuzuschauen und Schmerz zu empfinden, der aber wohl nie (zum Glück) an den körperlichen und seelischen Schmerz der Figur heranreichen wird. Trotzdem konnte ich einiges aus der Lektüre mitnehmen. Ich weiß natürlich, dass es viele solcher Fälle von Gewalt an Frauen auf der ganzen Welt gibt. Man liest ja häufig in den Nachrichten davon. Aber durch „Blauschmuck“ hat mich dieses Thema seit langem mal wieder so richtig erreicht, geradezu aufgerüttelt. Weil die Gewalt eben nicht wie in den Nachrichten faktisch dargestellt wird. Ich finde, solche Romane können zusätzlich für bestimmte Themen sensibilisieren und sie auch wieder ins Gespräch bringen. Je nachdem, wo man beruflich aktiv ist oder wofür man sich engagiert, passiert das natürlich auch an anderer Stelle. So wie bei dir vielleicht? Ich muss aber zugeben, dass ich manchmal zu sehr in meinem eigenen Trott drinstecke, dass ich viele Probleme in der Welt nur am Rande wahrnehme (was ich selbst auch sehr schade finde). Dann sind Bücher wie „Blauschmuck“ sehr hilfreich, um mit diesem Thema eben auch ein Publikum wie mich zu erreichen. Und vielleicht können Romane wie „Blauschmuck“ auch Betroffenen Mut machen, denn (so viel sei hier verraten) Filiz kann sich schließlich befreien aus dieser Welt der Gewalt.
      Hinzu kommt bei diesem Buch aber auch, dass die sprachliche Ebene total stark ist. Und wie du schon meintest, das Buch schütze sich durch seine Sprache, so kann man dies auch auf die Hauptfigur beziehen: Filiz schützt sich ebenfalls durch die Sprache.
      Die poetische Sprache der Autorin macht das Buch über die Thematik hinaus zu einem wertvollen Stück Literatur, das sich vor allem in diesem Punkt von einem Sachbuch, einer bloßen Biografie, unterscheidet.
      War das verständlich oder zu verworren?
      Vielen Dank für den Tipp mit dem Interview. Werde ich mir auf jeden Fall durchlesen.

      • Wortlichter

        Danke für deine ausführliche Antwort! War sehr verständlich 🙂
        Und ja du hast Recht, dass ich mit dem Thema in Berührung kam, hat mit dir Arbeit zu tun. Seitdem ich dort eine ganz besonders furchtbare Geschichte gehört habe, sind mir diese Geschichten nicht ganz geheuer. Aber etwas genauso Schlimmes, habe ich auch von einem Jugendlichen gehört. Nicht nur Frauen sind Opfer, sondern auch Kinder und Jugendliche. Ich glaube für Männer ist es sogar noch schlimmer darüber zu reden. Derjenige hat immer nur Bruchstücken und einzelne Wortfetzen erzählt und ist dabei zusammen gebrochen. Erst einige Jahre (!) später habe ich wirklich verstanden, was er höchstwahrscheinlich sagen wollte. Da haben sich plötzlich die ganzen Bruchstücke zu einem Puzzle zusammen gesetzt.

        Das freut mich, dass es zumindest ein Happy End gibt 🙂 Bücher die Mut machen, sind etwas Tolles.
        Das Interview ist eine Mischung aus Text und Podcast-Interview.

        Danke auch für dein Lob 🙂 Ich mag deine Texte und Rezensionen auch immer sehr gern. 😀

        Lg, Anja

  3. Das klingt erschütternd, und zugleich – besonders auch was die sprachliche Gestaltung angeht – sehr interessant. Vielen Dank für die Empfehlung!

    • Oh ja, das war es auch: sprachlich interessant und unglaublich erschütternd. Immer wenn ich dachte „Jetzt wird vielleicht alles gut oder zumindest besser.“, kam die nächste grausame Szene. Die nüchterne Erzählstimme machte diese Szenarien zudem noch unerträglicher.

Kommentar verfassen