Berlin, du Sehnsuchtsort vieler Menschen. Seit über einem Jahr wohne ich jetzt in dir und kenne dich doch immer noch nicht wirklich. Tatsächlich konnte ein Buch mich dir ein wenig näher bringen. Nach der Lektüre von Jörg Sundermeiers Die Sonnenallee (be.bra Verlag) sehe ich meinen Bezirk mit anderen Augen.
Als ich im Oktober 2015 nach Berlin zog, war ich zunächst froh, überhaupt ein Zimmer in dieser angesagten Stadt zu bekommen. Mein bester Freund war so lieb, mich bei ihm einziehen zu lassen. Unsere Wohnung befindet sich in Neukölln, Stuttgarter Straße, parallel zur Sonnenallee. Ich wusste zwar grob, dass Neukölln derzeit ziemlich hip ist und hier Menschen verschiedenster Nationalitäten leben, dennoch hatte ich nie wirklich Zeit und Geduld, mich näher mit meinem Wohnumfeld und seiner Geschichte zu beschäftigen.
Zum Glück entdeckte ich vor einiger Zeit Die Sonnenallee von Jörg Sundermeier im Programm des be.bra Verlags. Einerseits vergeht kein Tag, an dem ich diese titelgebende Straße nicht betrete, andererseits war mir Jörg Sundermeier als Verleger des Verbrecher Verlags, den ich sehr mag, bereits ein Begriff. Also ließ ich mir das Buch kurzerhand als Rezensionsexemplar zusenden und wurde nicht enttäuscht.
Der Autor nimmt uns mit auf eine „Sitzreise“ entlang der Sonnenallee. Unser Gefährt, wie sollte es auch anders sein, ist die Buslinie M41, welche die gesamte Sonnenallee befährt. Nahezu jeden Tag fahre ich mit dieser Linie. Nahezu jedes Mal ärgere ich mich über Verspätungen. Umso schöner war es zu lesen, wie liebevoll und ironisch Sundermeier die M41 skizziert.
Alle, selbst Menschen, die erstmals Berlin besuchen, wissen offenkundig bereits an diesem Punkt, dass man sich beim M41er in Demut üben muss. Der Bus verlangt es, jeder spürt es.
Ich konnte bei diesem Kapitel nur zustimmend nicken und musste mich mehrmals einem breiten Schmunzeln hingeben. Der Autor hat hier eine kleine Hommage an diese oft nervige Buslinie mit ihren liebenswürdig schroffen Fahrer*innen geschrieben. Wer, wie ich, oft mit der M41 fahren muss, wird dieses Kapitel lieben.
Die folgenden Kapitel orientieren sich an den Haltestellen der M41 auf der Sonnenallee. Zu jeder einzelnen und dem, was so Drumherum passiert, weiß Sundermeier einiges zu erzählen. Die Sonnenallee ist eine Mischung aus historischen Fakten, aktuellen Entwicklungen des Bezirks Neukölln und persönlichen Anekdoten. Meistens schlägt der Autor einen äußerst witzigen, lockeren Ton an. Ich hatte beim Lesen regelrecht das Gefühl, Sundermeier stünde vor mir und plaudere aus dem Nähkästchen.
Bei allem unterschwelligen Humor kritisiert der Autor aber auch den Umgang mit weniger privilegierten Menschen in diesem Bezirk. Obdachlose, Bettler*innen und auch Geflüchtete werden zunehmend aus dem immer hipper werdenden Nordneukölln verdrängt, sodass sie schließlich zu „Unsichtbaren“ werden.
Man sieht sie nicht mehr. Sie sind allerdings noch da – an die Ränder gedrängt, aus den Augen, aus dem Sinn. […] In Masse sind sie gar nicht sichtbar, nur als Vereinzelte, manchmal, wenn man nicht ausweichen kann, dann sieht man sie.
Und dann schreibt Sundermeier über eine weitere Gruppe von Menschen, die immer weniger anzutreffen ist: die Ur-Neuköllner*innen. Auch sie werden verdrängt, durch steigende Mietpreise, durch die anhaltende Gentrifizierung. Mit ihnen verschwinden oft auch Kneipen, Stammtischlokale und Gaststätten, die sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können.
Letzte Reste versammeln sich manchmal in den übrig gebliebenen Kneipen an der Sonnenallee, im „Tönnchen“ oder in „Pape’s Gasthaus“.
An dieser Stelle wurde ich beim Lesen ganz traurig. Ich wohne in dem Haus, in dem sich auch „Pape’s Gasthaus“ befindet oder viel mehr befand. Im vergangenen November musste ich nämlich mit ansehen, wie die gesamte Inneneinrichtung aus der Gaststätte geschleppt wurde. „Bei Pape’s wird renoviert“, sagte ich zu meinem Mitbewohner. Doch bis heute steht das einst so urige Restaurant leer. Und nun folgt die bittere Erkenntnis: Wäre ich doch mal dort Essen gegangen. Die Gentrifizierung schreitet also weiter voran. Selbst Sundermeier, dessen Buch im September 2016 erschien, konnte „Pape’s“ Untergang noch nicht ahnen.
Ansonsten hat mich Die Sonnenallee sehr fröhlich und vergnügt zurückgelassen. Durch Sundermeiers Erläuterungen weiß ich nun endlich, was es mit diesem „Hauptmann von Köpenick“ auf sich hatte. Ich lernte das angrenzende Rixdorf genauer kennen und habe nun wirklich Lust, den Weihnachtsmarkt dort zu besuchen. Schade, dass erst der Sommer kommt. Außerdem habe ich mich köstlich über die von Sundermeier so betitelten „Schwimmfaschisten“ im Stadtbad Neukölln amüsiert und erfahren, dass mein Wohnumfeld immer beliebter für Film- und Fernsehdrehs wird. Auch habe ich nun Lust bekommen, einmal die Sonnenallee jenseits der gleichnamigen S-Bahn-Station kennenzulernen. Das scheint ja schon eine etwas andere Welt zu sein.
Die Sonnenallee von Jörg Sundermeier ist ein Muss für alle Neuköllner*innen und vor allem für jene, die in der Nähe dieser Straße wohnen. Auch für Fans des Films Sonnenallee, die schon immer wissen wollten, wie das längere, aber auch das kürzere Ende – eben die gesamte Sonnenallee heute so tickt, ist dieses Buch genau richtig. Natürlich es hat mich sehr begeistert, weil ich einen ganz persönlichen Bezug zu den angesprochenen Orten habe. Aber ich denke, auch ohne diesen wird Die Sonnenallee durch Sundermeiers locker-flockigen Erzählstil, der ganz ohne Lokalpatriotismus auskommt, zu einem genialen Leseerlebnis.
Jörg Sundermeier
Die Sonnenallee
be.bra Verlag
ISBN: 978-3-89809-132-9
September 2016 erschienen
By the way: Falls ihr euch für einen anderen Stadtteil von Berlin interessiert, könnte euch ebenfalls ein Buch aus dem be.bra Verlag gefallen. Die Sonnenallee erschien nämlich in der Reihe Berliner Orte, in welcher bisher zwölf Titel verschiedenster Autor*innen zu unterschiedlichen Räumen in Berlin erhältlich sind.