Yavuz Ekinci: Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam

Zwei Argumente haben am diesjährigen Indiebookday dazu geführt, dass ich mich für den Roman von Yavuz Ekinci, Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam (Kunstmann), entschied: Zuerst sein totschickes Cover, dann die kurdische Herkunft des Autors. In der türkischen Literatur bin ich nämlich komplett unbewandert – Zeit also, dies zu ändern.

Yavuz Ekinci: Der Tag an dem ein Mann vom Berg Amar kam

Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam ist bereits Ekincis vierter Roman, aber der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch entführt die Leser*innen in ein entlegenes Fleckchen Erde, irgendwo im kurdischen Teil der Türkei, nur näher verortet durch den Berg Amar und das angrenzende Walnusstal.

Diese Entführung gestaltet sich dabei ebenso reizvoll wie abwechslungsreich. Zu Anfang vollführt die Erzählstimme eine literarische Kamerafahrt durch die vor Leben strotzende Wildnis des Walnusstals. Adler, Schlangen, Mäuse, Ameisen – alles ist dabei. Die Tiere leiten dabei das Auge der Erzählinstanz Schritt für Schritt weiter auf das Dorf zu. Auch hier springt der Fokus von Person zu Person und begleitet eine kleine Gruppe Kinder durch ein Stück sonnigen Nachmittags mit Fußball und Fernsehen. Eine Hauptperson oder ähnliches gibt es aber nicht, der Fokus springt beständig.

Dieser wuselige Einstieg hat mich erstmal begeistert. Auch wenn die vielen Personen in der zweiten Hälfte schnell überfordern, ist diese tollkühne Art in einen Roman einzusteigen doch mal wieder eine frische Idee. Gerade die Verquickung von Tieren und Menschen hat mir gefallen, die eine große Einheit des Zusammenlebens, eine Naturbelassenheit des kleinen Dorfkosmos beschwört.

Dann der Höhepunkt: Jemand sieht den Mann, der vom Berg Amar kommt. Doch bevor klar wird, wer dieser Mann ist oder was das alles zu bedeuten hat, macht die Handlung einen Sprung in eine Zeit außerhalb unserer benennbaren Zeiten, nämlich in das Reich der Märchen und Sagen. Das Märchen von Sara und Amar wird in wunderbar archaischem Ton erzählt. Ein kleiner Ausschnitt:

Die Sonne ging unter, es ward Nacht, der Mond und die Sterne standen am Himmel, es ward Morgen, die Sonne ging wieder auf, die Schatten wurden kürzer, doch weder der Mir noch das Pferd rührte sich vom Fleck. Als am Ende des dritten Tages die Sonne im Untergehen begriffen war, tat der Mir einen Schritt auf das Pferd zu. Das Pferd tat auch einen Schritt, ohne zu blinzeln.

Das Märchen erläutert die volkstümliche Gründungsgeschichte des Dorfs, in dem die Gegenwartshandlung spielt. Die unglücklich Verliebten Sara und Amar werden darin nach einer langen Leidenszeit von einem gütigen Herrscher an ebenjene Stelle gebracht, ins Walnusstal unter dem Berg, der daraufhin den Namen Amars bekam. Dort gründeten sie ein neues, freies Leben.

Diese Freiheit ist nun jedoch – und damit sind wir wieder in der Gegenwart des Romans – aufs Schärfste bedroht. Männer, die zuvor schon andere Dörfer niederbrannten und ihre Bewohner misshandelten oder gar töteten, sind über den Berg Amar auf dem Weg ins Dorf. Panik macht sich unter den Bewohner breit. Was ist zu tun? Ist dies das Ende des Dorfs, das Ende einer Überlieferung, die bis in die Welt der Sagen zurückreicht?

Im vorletzten Teil versucht sich Ekinci an einem kollektiven Erzählen. In kleinen Kapiteln erhalten wir Einblick in die Gedankenwelt aller Mitglieder einer der alteingesessenen Familien des Dorfs. Immer wieder springt der Fokus zur nächsten Person, doch diesmal nicht in einem einheitlichen Erzählfluss, sondern in kleinen Ausschnitten aus der Ich-Perspektive. Dies erzeugt eine große Nähe zu den einzelnen Personen und gleichzeitig ein intimes Bild der inneren Verfassung des Dorfes.

Im letzten Kapitel übernimmt dann wieder der Erzähler des Anfangs und führt das Geschehen behutsam zurück in die Natur, in die vom Menschen unangetastete Ruhe, in der Angst und Bedrohung weit weg erscheinen. Der Roman schlägt damit einen überaus eigenwilligen Bogen. Eine Rahmung führt aus der Natur ins Dorf der Menschen, von dort ins Reich der Sagen, dann wieder zurück ins Dorf, zu einer akuten, aber durch ihre Entfernung noch abstrakt erscheinenden Bedrohung. Dann schließt sich der Rahmen und führt zurück in die Natur, die Ruhe, das Idyll. Jedoch ein brennendes, zerstörtes:

Am Boden riesige Eichenbäume, Äste daneben wie gebrochene Arme, Rauch quillt aus den Leibern der Bäume …Der Wind verweht die Asche verbrannter Gräser, Blätter, Zweige. Alles ist still …

Der Mensch hat erst das Idyll besiedelt, es sich zu eigen gemacht, um es dann in seiner unvermeidlichen Zerstörungswut niederzubrennen. Yavuz Ekinci legt mit Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam einen Roman vor, der diese Parabel in eine moderne Form überführen möchte. Die verschiedenen Erzähltechniken kombiniert mit der typischen Rahmung lassen dies klar hervortreten. Für mich ist dieser Versuch gelungen, wenn auch mit Abstrichen. Denn die einzelnen, sehr verschiedenen Teile sind in sich immer sehr kurz und mit Ausnahme des Märchens nicht sehr tiefgehend ausgeführt. Hier hätte es ein klein wenig mehr sein dürfen, um der Geschichte mehr Tiefe zu verleihen. Aber die Konzentration auf das Wesentliche hat auch Vorteile und ist – meinem Eindruck der fehlenden Tiefe zum Trotz – ja auch ein Merkmal der Parabel.

Diese Vorteile liegen für mich vor allem in der großen Symbolhaftigkeit des Geschehens. Brechen wir dies ganz kurz zurück auf Ekincis kurdische Herkunft, kann man den Roman auch als Parabel auf die Bedrohung der Kurden durch den türkischen Staat sehen. Gerade heute ist dies ja wieder ein absolut aktuelles Thema.

Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam von Yavuz Ekinci ist das erste türkische Buch, das ich gelesen habe. Ich bin mir sicher, dass es ein sehr spezielles ist. Eine Parabel, die archaisches und modernes Erzählen miteinander kombiniert und damit die traditionelle Form der Parabel ins 21. Jahrhundert manövriert. Politik darf dabei nicht fehlen – sie ist hier aber sehr hintergründig verflochten und wird den Leser*innen nicht platt aufgedrängt.

Weitere Rezensionen findet ihr u. a. auf Kapri-ziös und leseschatz.

Yavuz Ekinci Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kamYavuz Ekinci

Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

Verlag Antje Kunstmann

ISBN 978-3-95614-166-9

Erschienen im März 2017

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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