Ein Strichhäuschen, eine grüne Wiese, ein paar weiße Kleckse. Luise Maiers Debütroman Dass wir uns haben (Wallstein) kommt mit einem kindlichen Cover in der Farbe der Hoffnung daher. Dass in diesem Buch alles andere als eine unbeschwerte Kindheit erzählt wird und die Hoffnung sowieso keinen Raum hat, wird schon nach wenigen Seiten klar.
In Dass wir uns haben berichtet die Ich-Erzählerin rückblickend von ihrem Familienleben im „grünen Haus“. Sie wohnt dort zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Alle Figuren bleiben namenlos. Sie brauchen auch keine Namen, denn Familiengeschichten wie diese gibt es wohl auf der ganzen Welt und sind allgemeingültig. Wie alt wer ist, wird ebenfalls nie genau erwähnt. Aber es wird deutlich, dass hier Kindheit und Jugend der Erzählerin dargestellt werden.
In kurzen Episoden schauen wir der Familie bei ihrem Alltag zu, der zumeist von Kälte und Distanz geprägt ist. Viel Geld scheint die Familie nicht zu haben. Als sie in das grüne, halb vermoderte Haus in einem Dorf zieht, will der Vater lediglich das Allernötigste renovieren. Die Mutter ist dagegen, sie will ein intaktes Haus für sich und ihre beiden Kinder. Aber der Vater setzt sich durch. Sowieso ist der Vater zu Beginn eine sehr starke Figur. Wenn die Kinder, vor allem der Bruder, etwas angestellt haben, wird er gewalttätig oder sperrt sie zur Strafe weg.
Mein Bruder lag auf dem Rücken in seinem Bett, Vater stand über ihn gebeugt und fesselte die Handgelenke meines Bruders an die Bettpfeiler. Er zurrte den Strick fest.
Die Mutter wird im Laufe der Handlung zu einer immer selbstständigeren Person. Statt nur noch Hausfrau und Mutter zu sein, beginnt sie zu malen. Doch muss sie immer wieder ins Krankenhaus, weil sie an Morbus Crohn leidet. Die Kinder erleben das Leiden der Mutter aus nächster Nähe. Obwohl der Vater sonst so aggressiv sein kann, kümmert er sich hier fast rührend um seine Kinder. Doch nur kurze Zeit später bekommt die Beziehung der Eltern den wohl tiefsten Riss, als der Vater mit der besten Freundin der Mutter fremdgeht. Von da an streiten beide immer mehr, reden irgendwann nicht mehr miteinander und die Scheidung rückt in greifbare Nähe. Die Kinder müssen all das mit ansehen und stumpfen zusehends ab.
Sowieso sind alle Figuren in Dass wir uns haben sehr ambivalent. Zu Beginn scheint es so, dass zumindest das Geschwisterpaar eine verschworene Einheit gegenüber den Eltern bilden. Aber dem ist nicht so. Auf der einen Seite stehen sie sich bei, wenn die Eltern sich streiten. Auf der anderen Seite wird aber auch der Bruder gewalttätig gegen seine Schwester, wenn sie ihn nervt. Irgendwie auch klar, er hat es ja nicht anders gelernt. Schwester und Bruder teilen sich ein Zimmer, bekommen alles, auch nächtliches Onanieren, voneinander mit. Es scheint zudem so, als hätten die beiden sonst nur wenig Freunde und Außenkontakt. So kommt es auch, dass sie zusammen und aneinander ganz unbedarft ihre Sexualität entdecken. Passend zum Romantitel klammern sich die Familienmitglieder aneinander fest und haben doch nicht viel Liebe füreinander übrig.
Auch die Ich-Erzählerin verspürt das Bedürfnis, Gewalt auszuüben. Doch tut sie dies in Form von Tierquälerei. Die Szene, in der sie einem Hamster einen Zahnstocher in den Po drückt, konnte ich fast nicht zu Ende lesen. Es war einfach nur widerlich. Ähnlich ging es mir, als die Schwester sehr detailliert beschreibt, wie sich selbst mit einer Schere ins Augenlid schneidet, um ihre Eltern wieder zum Miteinanderreden zu zwingen. Das war harter Tobak. Selten habe ich mich beim Lesen so geekelt und gleichzeitig soviel Trostlosigkeit und Mitleid verspürt. Am meisten hat mich aber tatsächlich bewegt, dass die Ich-Erzählerin und auch ihr Bruder all diese Gewalt und diesen Hass zwischen den Eltern mit ansehen müssen.
Ich nahm die spitze Schere aus dem Nähkästchen meiner Mutter. Vielleicht reden meine Eltern wieder miteinander, wenn sie mich zum Arzt bringen müssen, dachte ich.
Das alles beschreibt Luise Maier mit einer sehr reduzierten, klaren Sprache, die mich oft an den Ton in Katharina Winklers Blauschmuck erinnert hat. So isoliert wie der sprachliche Stil, so wirkt auch das Familienleben in Dass wir uns haben. Die sehr knappen Szenen geben den Leser*innen das Gefühl, die Familie ausschnittartig durch ein Fenster zu beobachten. Das Erzählte und die nüchterne Sprache lassen große Leerstellen offen, genauso wie die Gestaltung des Buches, wenn oft nur eine halbe Seite mit Text gefüllt ist.
Luise Maiers Debütroman ist kein Wohlfühlbuch. Es zieht herunter, es macht beklommen und es verstört. Aber genau hierin liegt die große Stärke des Romans. Luise Maier zeigt auf drastische Weise, was Kindern beim Aufwachsen durch die Eltern angetan werden kann und dass Familie als geschützter und zugleich isolierter Raum nicht funktioniert. Dass wir uns haben ist ein außergewöhnliches Debüt, das schonungslos hinter die Fassade einer Familie blicken lässt, von der es sicherlich viele auf dieser Welt gibt.
Weitere Rezensionen findet ihr u a. auf Pfeil und Bogen und auf Pink mit Glitzer.
Luise Maier
Dass wir uns haben
Wallstein
18,00 € | 152 S.
Erschienen im März 2017
Hi Juliane,
das klingt tatsächlich nach hartem Tobak, der sich bestimmt im 1000enden von Familien abspielt. Das Buch merke ich mir mal vor, obwohl es mir beim Debütpreis letztes Jahr durch die Finger rutschte. Schöner Beitrag, der das Intensive des Textes schön widerspiegelt
Gruß
Marc
[…] Einen weiteren Blick auf den Roman bietet euch auch Juliane von poesierausch.com. […]
Hallo Julchen,
auch diese Rezension gefällt mir wieder sehr. Das ist ein Buch aus dem normalen Leben, leider. Es ist erschreckend zu lesen, wie streng erzogen und mit welcher Gewalt Kinder aufwachsen müssen. Aber oft kennt man die Hintergründe nicht, wie z.B. die Eltern selbst ihre Kindheit erlebt haben.
Ich, als deine Mutti, erwischte mich, dass sich manche Erziehungsmaßnahmen den meiner Eltern ähnelte, obwohl ich es nicht wollte. 😉
Ich würde dieses Buch gern lesen, auch wenn ich kein Literaurexperte bin.
Liebe Grüße
Mutti
Hallo Mutti,
wie schön, einen Kommentar von dir auf meinem Blog zu lesen, darüber freue ich mich ganz besonders! 🙂
Du hast vollkommen recht. Jeder Mensch ist wohl ein Kind seiner Erziehung und trägt diese das ganze Leben mit sich rum. Umso wichtiger ist es, dass Missstände in der Kindererziehung aufgedeckt werden und man sich als Eltern ständig hinterfragt. Und ganz perfekt ist ja niemand. Ich finde, du hast bei mir schon eine ganz guten Job gemacht! 🙂
Um Literatur zu lesen, musst du keine Expertin in irgendwas sein. Literatur soll vor allem Spaß machen und solange du etwas mitnehmen kannst aus der Lektüre, ist doch alles gut. Also ich kann dir das Buch gern mitbringen bei meinem nächsten Besuch! 🙂
Liebe Grüße und Küsschen
Julchen