In Martin Walsers 1978 erschienener Novelle Ein fliehendes Pferd (Suhrkamp) trifft Helmut Halm auf Klaus Buch, Kleinbürgerlichkeit auf Spontaneität, Gleichförmigkeit auf Sprunghaftigkeit. Aber unter der Oberfläche brodelt noch viel mehr.
Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der ersten Reihe genommen. So dicht an den in beiden Richtungen Vorbeiströmenden sah man doch nichts.
Die Eingangssätze von Ein fliehendes Pferd werfen ein kurzes Schlaglicht auf die Beziehung von Sabine und Helmut Hahn. Die beiden sind seit vielen Jahren verheiratet und machen seit elf Jahren immer in der gleichen Ferienwohnung am Bodensee Urlaub. Mit den Vermietern, der Familie Zürn, pflegen sie seither ein wohlbehütetes, absolut höfliches und formvollendet oberflächliches Verhältnis. Ganz nach Helmuts Geschmack: Er mag die Entfernung, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, um sich in ihm zu suhlen.
Auch wenn Helmut die von Sabine initiierten Ausflüge eigentlich stören, sind sie ihm doch ein steter Quell des Wohlgefallens, zeigen sie ihm doch immer wieder, wie weit er von allen anderen Menschen entfernt ist. Auch im elften Jahr funktioniert dies wieder prächtig:
Findest du das gut hier, sagte er. Ich könnte ewig Leute anschauen, sagte sie. Ich nicht, sagte er. Schade, sagte sie. Ich geh’ jetzt, sagte er wütend. Nur noch eine Minute, sagte sie. Bitte, sagte er und sah auf die Uhr.
Die Kargheit dieses das erste Kapitel abschließenden Dialogs steht stellvertretend für das Verhältnis der beiden zueinander. Worte und Gesten sind eingeübt, nur wenig ist noch zu sagen, da eigentlich alles schon tausende Male gesagt ist. Dies soll gar nicht mal so negativ klingen, wie es vielleicht anmutet. Immer wieder zeigt sich zwischen beiden eine große Vertrautheit. Allerdings bleibt dabei durchweg im Dunkeln, inwiefern die Beziehung der beiden ein Liebes- oder doch eher ein Zweckverhältnis darstellt.
Im zweiten Kapitel steht dann der tiefste Schock für die traute Kleinbürgerlichkeit in Person eines Bluejeans tragenden jungen Paars am Tisch: Klaus und Helene Buch. Die kleinbürgerliche Idylle nimmt damit ein jähes Ende. Buch stellt sich als alter Schulfreund von Helmut vor, auch wenn dieser sich zunächst nicht an die gemeinsame Vergangenheit erinnern kann oder will. Die Halms werden in einen Strudel aus Aktivitäten gerissen, der ihren Trott heillos zerstört.
Denn Klaus Buch ist ein Getriebener, süchtig nach Sport, Gesundheit, Intellekt, Aktivität – und besonders Anerkennung. Sobald die deutlich jüngere Helene eine etwas kritische Bemerkung macht, bricht sein Fortune ein: „Du magst mich nicht mehr, gell?“, sagt er immer wieder. Klingt dies anfangs noch verspielt und neckend, werden im Laufe der Novelle immer tiefere Risse in der Fassade sichtbar. Überhaupt ist es eine Stärke der Novelle, die Figuren Klaus und Helmut immer schärfer zu zeichnen, bis sie schließlich fast zu Karikaturen geraten.
Aber eben nur fast. In Ein fliehendes Pferd bröckelt es an allen Ecken und Enden. Die kleinbürgerliche Routine in Sabines und Helmuts Leben bekommt durch Helene und Klaus Buch eine gefährliche Unwucht. Sabine wollen die Zigaretten, Klaus die Zigarren nicht mehr schmecken, und auch der Wein scheint sauer zu werden, sobald die Buchs ein Loblied auf Mineralwasser und Bewegung an der frischen Luft anstimmen. Um gleich darauf von ihren veröffentlichten Büchern und aktuellen Projekten zu sprechen. Doch auch diese bekommen einen immer fahleren Beigeschmack.
Denn die zwischen den Zeilen vibrierende Kritik an der feierlichen Kleinbürgerlichkeit der Halms ätzt mindestens genauso stark an der hohlen Anti-Kleinbürgerlichkeit der Buchs. Beide verlieren ihre Selbstsicherheit, sobald sie ihr Spiegelbild im Blick des jeweils anderen sehen, sich konfrontiert sehen mit ihrem Gegenentwurf. Tatsächlich stellen sich aber die Halms als zu gesetzt heraus, um sich vollkommen aus der Bahn werfen zu lassen. Auch wenn die novellentypische Katastrophe sie an die Grenzen der Belastbarkeit bringt.
Ist Ein fliehendes Pferd damit ein Lob der Kleinbürgerlichkeit? Nein. Zu scharf sind die Zwischentöne, die vor allem Helmuts Ansichten immer wieder bloßstellen. Wird in der Novelle größtenteils ein liebenswürdiges Porträt aller Figuren gezeichnet, so hat mich das Gefühl nicht losgelassen, dass der Erzähler doch insgeheim mit Verachtung auf sein Personal herabblickt. Die feine Ironie seines Erzählens bricht immer wieder ins Verachtende über. Damit reiht er sich ein in die anderen heimlichen Verachter: Denn natürlich verachtet Helmut Klaus, und natürlich verachtet Klaus Helmut.
Von den Frauen lässt sich dies leider kaum sagen. Denn Sabine und Helene sind zwar durchaus integre Teile der Geschichte, im Zentrum stehen aber ganz klar die beiden Männer. Die Frauen sind eigentlich nur dazu da, die Profile der Männer über die Beziehungen, die sie führen, noch weiter auszubauen, während sie selbst sich kaum entwickeln. Auch der große Auftritt Helenes am Ende ist vielmehr eine Charakterisierung von Klaus als dass sie selbst eine bedeutende Rolle darin spielen würde.
Ein fliehendes Pferd von Martin Walser ist damit am Ende ein Paradebeispiel von Kanon-Literatur. Sie zeigt einen Autoren in erzählerischer Hochform, eine verdichtete Handlung, eine Parade-Novelle. Genauso zeigt sie aber auch ein abschätziges Herabschauen des Bildungs- auf das Kleinbürgertum. Und nicht zuletzt auch das Problem eines männlich dominierten Kanons, der in viel zu vielen Fällen daran scheitert, echte Frauenfiguren in ihre Handlungen zu integrieren.
Ein fliehendes Pferd
suhrkamp taschenbuch
160 Seiten | 6,50 €
Erschienen 1980, Erstausgabe 1978
[…] Pour le livre en allemand : Walser, Martin, Ein fliehendes Pferd, Suhrkamp taschenbuch, 1980 [1978]. On trouve une critique plus longue de l’œuvre en allemand, ici. […]
[…] Pour le livre en allemand : Walser, Martin, Ein fliehendes Pferd, Suhrkamp taschenbuch, 1980 [1978]. On trouve une critique plus longue de l’œuvre en allemand, ici. […]