Für seinen Roman Predigt auf den Untergang Roms (Secession) bekam Jérôme Ferrari 2012 den Prix Goncourt, er gehört zu den wichtigsten französischen Schriftsteller*innen der Gegenwart. Im Roman geht es um das Leben, um Familie, um Langeweile, Spaß, Freundschaft, Liebe – und den Tod.
Predigt auf den Untergang Roms – ein eigenartiger Titel. Die besagte Predigt stammt vom spätantiken Kirchenvater Augustinus. Zitate daraus stehen den Kapiteln vor und erzeugen eine festliche Schwere in Klang und Thematik des Romans, noch bevor der erste Satz überhaupt gelesen ist. Dann ist der erste Satz gelesen, das erste Kapitel. Jérôme Ferrari hat mit der Wahl des Rahmens nicht zu dick aufgetragen, soviel sei hier vorweggenommen.
In einer überwältigend poetischen Sprache setzt der Roman ein, nimmt uns Leser*innen zunächst mit in die Gedanken des greisen Marcel Antonetti, der eine Fotografie seiner Familie betrachtet, die aufgenommen wurde, bevor er geboren war:
Man sieht seine fünf Geschwister mit seiner Mutter darauf abgebildet. Um sie herum ist alles milchig weiß, weder Wände noch Boden sind auszumachen, und sie scheinen wie Gespenster in dem merkwürdigen Nebel zu schweben, der sie bald schon verschlucken und auslöschen wird.
Seine Abwesenheit auf dem Bild ist ihm zu einem Dämon geworden, der ihn umtreibt und das Bild immer wieder vorholen lässt. Ist das die Ahnung seiner Geburt im Blick seiner Mutter, eine Nachricht an ihn, ihren Sohn und späteren Betrachter? Was möchte sie ihm sagen? Der Nebel, der seine Mutter und Geschwister verschluckte, zieht nun auch um ihn herum auf, er sieht seinen Tod kommen.
Schaut Marcel hier zurück in die Vergangenheit, um sich an seine Mutter und Geschwister zu erinnern, so bewegt sich der Roman auch in die entgegengesetzte Richtung, wenn es um Marcels Nachkommen geht. Sein Neffe Matthieu mit dem besten Freund Libero und Marcels Nichte Aurélie sind die weiteren Hauptcharaktere des Romans, der in seinen Kapiteln zwischen Marcel und der jungen Generation hin und her wechselt und damit eine große Bandbreite an Erinnerungen, Wahrnehmungen, Erlebnissen und Gedanken ausschöpft.
Matthieus Leben steht in starkem Gegensatz zu dem seines Großvaters. Er wächst nicht im korsischen Dorf auf, in dem sein Großvater mehr oder weniger sein gesamtes Leben verbringt, sondern in Paris. Seine Eltern sind dorthin übergesiedelt. Wie man es in Frankreich eben so macht, wenn die Provinz in ihrer Piefigkeit nicht zu ertragen ist. Doch Matthieu wird von seiner ihm eigentlich fremden Heimat stark angezogen, was vor allem einen Grund hat: seinen besten Freund Libero, das jüngste Kind eines sardischen Familienclans, der Matthieu die spröde Schönheit des Dorfs zeigt.
Zunächst siegt jedoch der Moloch, Paris. Beide studieren, doch will sich bei beiden nicht so richtig das Glück einstellen. Sie sind unzufrieden mit ihren Leben, unzufrieden mit ihren Perspektiven in irgendwelchen Banken oder Unternehmen, einer Aussicht auf Tristesse und leere Etikette. Bis sie erfahren, dass im korsischen Dorf neue Pächter für die Kneipe, das heimliche Herz der Gemeinde, gesucht werden, und sie Hals über Kopf die Koffer packen.
Begeisterung kommt dafür weder bei Matthieus Eltern noch bei seiner Schwester Aurélie auf, die ihren Bruder aber so oder so immer für minderbemittelt hielt. Was nicht heißt, dass sie eine große Verfechterin von Paris wäre. Auch sie zieht es weg, auch sie spürt den Drang nach etwas komplett anderem. Denn die Tristesse, vor der Matthieu flüchtet, bestimmt ihr Leben bereits. Sie führt in Paris eine leere Zweckbeziehung und unterhält oberflächliche Freundschaften. Sie zieht es in den Süden, nach Algerien. Dort sucht sie als gelernte Archäologin in den Ruinen des antiken Hippo Regius nach den Überresten des Klosters, dem Augustinus einst vorstand.
So gräbt Aurélie nach den Spuren des Mannes, dessen Lehre die Gedankenwelt Marcels, ihres Großvaters, komplett prägt. So wandelt Matthieu auf den Pfaden, die seine Ahnen lange Zeit vor ihm gingen. So durchdringen sich in Predigt auf den Untergang Roms die verschiedenen Ebenen von Erinnerung und Gegenwart, Weltlichkeit und Gedankenwelt und bilden ein ebenso poetisches wie tiefsinniges, weitverzweigtes Geflecht. Sprachlich schafft es Ferrari perfekt, sich den verschiedenen Ebenen anzupassen und den Ton der personalen Erzählstimme den Situationen anzugleichen. In verschlungenen, weit ausholenden und manchmal bis an die Schmerzgrenze langen Sätzen sinnieren Marcels Kapitel und berühren dabei immer wieder wie zufällig philosophische Diskurse. Nicht nur die katholische Leidenslehre Augustinus’ steht dabei im Vordergrund, auch Medientheorie und die Beschaffenheit der Zeit werden en passant umkreist.
Die Sprache der jungen Generation ist dagegen rau und direkt. Alkohol, Sex und Eifersucht bilden neben der Freundschaft Themen rund um den Mikrokosmos der Dorfkneipe von Matthieu und Libero. Die Dramen, die sich für den Greis Marcel in der Vergangenheit oder einer fast mythischen Gedankenwelt abspielen, enden hier meist mit einem handelsüblichen Faustschlag mitten ins Gesicht. In deutlich kürzeren Sätzen wird die höhere Taktzahl der Jungen sprachlich in ihren Rhythmus gebracht. Ein Kompliment sei dafür auch dem Übersetzer Christian Ruzicska gemacht. Dies war ganz sicher keine leichte Aufgabe. Allein die in einigen Fällen doch unnötig langen Sätze haben mich etwas gestört, genauso wie ein paar Satzfehler, die dieses so wunderschöne Buch nun wirklich nicht verdient hat.
Predigt auf den Untergang Roms von Jérôme Ferrari ist ein hochpoetischer und -komplexer Roman, der sich nicht ganz leicht lesen lässt. Stellt man sich jedoch der Herausforderung, eröffnet er eine Welt voller kleiner und großer Dramen, die in menschliche Abgründe ebenso schonungslos hineinleuchtet wie Freude und Glück darzustellen weiß.
Predigt auf den Untergang Roms
Secession
208 Seiten | 19,95 €
Erschienen 2013