Ein eigenwilliges Filmprojekt hält in Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens (S. Fischer) von Roman Ehrlich eine Gruppe von Menschen in Schach. Bis an die Wurzel ihrer Ängste möchte der Regisseur mit ihnen gehen, mit allen Mitteln. Der Roman exerziert diesen Weg auf sehr eigene, beeindruckende wie fordernde Weise.
Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man Moritz’ Leben als langweilig, ja ihn selbst als einen eher langweiligen Typen bezeichnet. Morgens geht er in die Agentur für Webdesign, in der er arbeitet, bringt den Tag so gut es geht hinter sich. Er macht alle Agenturspielereien mit: spielt Kicker, trinkt abends Bier mit den Kollegen, beteiligt sich an Insidern, fährt mit zu diversen Ausflügen. Dass er sich dabei nie wohl fühlt, merken natürlich auch seine Kollegen. Er ist nicht nur wegen seines höheren Alters – er ist Mitte 30 – ein Außenseiter, ein Alleingänger, der sich anderen gegenüber nicht öffnen kann.
So tröpfeln die Tage nutzlos dahin, Moritz klammert sich noch an die Erinnerungen aus der Zeit mit Josi, seiner Ex-Freundin. Mit ihr war zumindest noch was los in seinem Leben, auch wenn es ihm nicht immer übermäßig gefallen hat. Manchmal denkt er auch daran, alte Bekannte wieder zu kontaktieren. Doch eigentlich macht er es nie. Bis plötzlich sein Handy klingelt und sein Studienfreund Christoph anruft. Er lädt Moritz ein, bei einem Filmprojekt mitzumachen, einem Horrorfilm: Das Schreckliche Grauen. Wenig überraschend mag Moritz eigentlich keine Horrorfilme, aber was soll’s, er ist dabei.
Von diesem Zeitpunkt an ändert sich sein Leben gewaltig. Einmal die Woche fährt er abends nach Ulm, um an der Vorbereitung des Films teilzunehmen. Eine wechselnde Gruppe trifft sich dort zu Angstsitzungen. Einzelne Personen kommen auf die Bühne, um über ihre tiefsten Ängste zu sprechen. Später kommt noch Selbstgeißelung hinzu, um noch tiefer in den eigenen Schrecken eintauchen zu können. Langsam aber stetig füllen diese Sitzungen das gesamte, leere Leben von Moritz, werden zu seinem Lebensinhalt. Er verliert seinen Job, konzentriert sich voll auf die Ängste. Als es irgendwann endlich an den Dreh des eigentlichen Films geht, begeben sich die Gruppenmitglieder auf eine höchst eigenartige Reise.
Roman Ehrlichs Roman Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens macht es uns Leser*innen nicht leicht. Der spröde, langweilige und mit ziemlich niedrigem Selbstvertrauen ausgestattete Moritz erzählt die Geschichte des ambitionierten und unkonventionellen Horrorfilmprojekts aus der Ich-Perspektive. Es gibt nicht viel, was ihm gefällt, weder Ideen, noch Personen. Gerade nicht solche, die ihm seine Position als Freund des Regisseurs streitig machen könnten. Nur die Schilderungen der Ängste anderer hört er immer wieder mit Begeisterung an. Die Geschichten, die meist sehr ausführlich wiedergegeben werden, nehmen einen großen Teil des Romans ein.
Überhaupt gibt Moritz viel wieder, aus ihm selbst kommt eher wenig. So ist der Roman, der eigentlich vollkommen gerade und ohne sonderliche Schnörkel durcherzählt ist, doch irgendwie ein Stück Postmoderne – wenn auch immer nur in der Form der Nacherzählung. So mischen sich die Geschichten der Angst, Nacherzählungen von Horrorfilmen, die bei den Sitzungen geschaut werden, und Nacherzählungen von Passagen aus einem Roman, den Josi Moritz kurz vor dem Ende ihrer Beziehung geschenkt hat. Verknüpfungen tauchen auf, wo man sie kaum vermutet, und Moritz taucht immer tiefer in dieses Gestrüpp von Erzählungen ein, verliert sich darin.
Der Winter zog sich hin, und mir ging das Geld aus. Ich hatte all meine Rücklagen für Fahrscheine nach Ulm ausgegeben, für die Miete und für das wenige Essen, das ich jeden Tag aß, seit Wochen schon die immer selben Sachen, ohne wirklich darüber nachzudenken oder es überhaupt zu bemerken.
Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens ist eine Sozialstudie, die Menschen in Extremsituationen zeigt. Der Roman führt vor Augen, wie zumeist vereinsamte, entfremdete Städter, von denen Moritz das Paradebeispiel darstellt, selbst bei einem derart wahnsinnigen Projekt wie dem Schrecklichen Grauen kaum aus sich herauskommen. Seine Beobachter- und Aufseherrolle, die er sich selbst auferlegt hat, kann er, selbst wenn er es wollte, nur in wenigen Momenten für kurze Zeit verlassen. In diesen absolut raren Momenten findet er dann etwas, was ein Ich sein könnte. Aber, und das kann uns jetzt kaum überraschen, es ist ihm sofort unfassbar peinlich, wenn ihm dies bewusst wird.
Roman Ehrlichs Roman fordert viel von seinen Leser*innen. Durchhaltevermögen bei langen Nacherzählungen und Gnade oder Mitgefühl mit Moritz. Dafür entfaltet der Roman einen eigenartigen Sog, der sowohl durch den vortrefflichen sprachlichen Stil als auch durch die wirklich gut geschilderten Charaktere erzeugt wird. Die Sätze sind auf den Punkt und verfangen sich nicht in Nebensatzkonstruktionen, die Beschreibungen sind absolut glaubhaft. Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens ist ein wunderbarer Roman, um das schreckliche Grauen unseres eigenen Alltags mal aus der Ferne zu erleben und zu hinterfragen. Die Seitenhiebe auf AfD und Co. gegen Ende wirkten auf mich allerdings doch etwas bemüht, das hätte es nicht gebraucht.
Eine weitere Rezension gibt es hier: letusreadsomebooks.
Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens*
S. Fischer
640 Seiten | 24,00 Euro
Erschienen im März 2017
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