Teneriffa: Gehört zu den Kanaren, zu Spanien, ist aus einem Vulkan hervorgegangen und ein beliebtes Urlaubsziel – und sonst? Inger-Maria Mahlke tritt in ihrem für die Longlist nominierten Roman Archipel (Rowohlt) eine Reise in die Geschichte einer mir bis dato ziemlich unbekannten Insel an.
Julio Baute sitzt im Altenheim an der Rezeption, drückt die Tür für Besucher*innen und geistig wohlbehaltene Bewohner*innen auf, für demente bleibt das Tor allerdings geschlossen, ebenso außerhalb der Besuchszeiten. Oder wenn die Tour de France in eine entscheidende Etappe geht, dann könnte Julio die Tür auch mal kurz vergessen. Immerhin ist er auch ein Bewohner, der sich am Lebensabend aber noch nützlich macht.
Seine Tochter Ana ist in der Lokalpolitik auf der Insel aktiv. Ein Skandal ist gerade an die Öffentlichkeit geraten, Ana steht im Mittelpunkt der Berichterstattung, Medienvertreter belagern ihr Haus. Ihr Mann Felipe lässt sich dadurch nicht von seinen Besuchen im Club abhalten, wo er sich zum Frühstück schon das erste Gläschen Whisky gönnt. Als Spross einer der reichsten Adelsfamilien der Insel hat er das Privileg, dies mit überschaubarer Verachtung seiner Verwandtschaft zu tun. Und Ana ist es eh lieber, wenn er nicht zu Hause ist, genau wie der schon immer dagewesenen Haushälterin Merche und Anas und Felipes Tochter Rosa.
Rosa ist vor Kurzem vom Kunststudium in Madrid zurück auf die Insel gekommen. Ohne Ankündigung stand sie vor der Tür. Geflohen wäre wohl das bessere Wort, denn augenscheinlich befindet sie sich in einer Sinnkrise. Durch Zufall lernt sie eine Frau aus Julios Altenheim kennen und beginnt ihr zu helfen, fängt schließlich als Freiwillige im Altenheim an, jeden Tag, bis der Sinn langsam in ihr Leben zurückkehrt.
Das Setting von Inger-Maria Mahlkes neuem Roman Archipel, das in den ersten Kapiteln ausgebreitet wird, lässt den Roman einer dysfunktionalen Familie auf Teneriffa erwarten. Drei Generationen, je mit ihren eigenen Problemen. Dazu Themen aus Politik, Adel und Militär, Altenheim, Kunst. Ich muss zugeben, dass mich dieses Setting absolut zufriedengestellt hätte, aber Archipel schlägt dieser Erwartung ein bedeutungsvolles Schnippchen. Denn anstatt den Roman und die Figuren weiter in die Zukunft zu entwickeln, dreht er die Zeit Stück für Stück zurück und führt die Leser*innen über Generationen bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts. Julio Baute ist dabei die einzige Konstante, er wird vom hohen Alter bis in die frühe Jugend verfolgt. Nicht zu vergessen Merche, die fast gleichaltrige Haushälterin der Bernadottes.
Archipel schreibt damit eine Geschichte Teneriffas anhand der Familien der Bernadottes und der Bautes, die sich schließlich in Ana und Felipe treffen und von Merches Familie begleitet werden. Die Bernadottes sind als alter spanischer Adel privilegiert, die Männer bis zu Felipe durchweg im Militär aktiv. Die Bautes sind eine Familie, die gegen Mitte des 20. Jahrhunderts als Arbeiter in so etwas wie die Mittelschicht aufsteigt. Julio arbeitet als Elektriker, seine Frau ist früh gestorben. Doch sie kommen soweit gut über die Runden. Anders wieder Merches Familie, die klar zur Unterschicht gehört und viel Elend ertragen muss. Erst mit der Anstellung bei den Bernadottes wird es für Merche besser, doch auch dort ist sie nicht vor Kummer sicher.
Die drei unterschiedlichen Familien erlauben es dem Roman, die Geschichte Teneriffas im 20. Jahrhundert auf höchst differenzierte Weise zu erzählen, ohne diese Differenzen dabei zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Wir lesen nicht einfach die Befreiung von den Faschisten, den Putschversuch des Militärs oder die Machtübernahme Francos (antichronologisch, versteht sich) je einmal aus Perspektive der Ober-, Mittel- und Unterschicht. Der Roman beschreibt Personen, die Geschichte auf ihre ganz eigene Weise erleben. Jedes Moment der Belehrung ist dem Roman fremd. Was auch bedeutet, dass ich nicht ständig Ereignisse der spanischen Geschichte bei Wikipedia nachgelesen habe, um ganz im Bilde zu sein. Für mich ein Beleg für die starke Tragkraft von Archipel.
Die Sprache ist dabei so heutig, wie man es sich nur wünschen kann, der Stil ohne zu viele Nebensatz-Kapriolen, dafür mit reichlich spanischem Vokabular, was der Erzählung ein schönes Lokalkolorit verleiht. Nur die Charakterzeichnung wird – abgesehen von den Figuren, die von Beginn an dabei sind – notwendigerweise kurz, zum Ende des Romans dann immer kürzer. Dies ist der Preis, den Archipel für den Ritt durch etwa 100 Jahre spanischer Inselgeschichte zahlt: Viele der Charaktere tauchen gerade zum Ende hin nur noch recht kurz auf und können dabei nicht mehr in der Tiefe gezeichnet werden. Auch ist es nicht einfach, den Überblick über alle beschriebenen Äste der drei Familien zu behalten. Glücklicherweise steht am Ende des Buchs nicht nur ein Glossar der spanischen Begriffe, sondern auch ein Personenverzeichnis zur Hilfe bereit. Hätte ich es mal früher entdeckt …
Sie essen, was sie finden können. Eine Packung Rosquetes und Oliven mit Anchovis. Er öffnet eine Dose Thunfisch. Der Kühlschrank ist leer, bis auf eine halbe Flasche Rotwein, Senf und eine Flasche Mojo.
»Was möchtest du mit dem Haus anfangen?«, fragt Ana so beiläufig wie beabsichtigt, während sie den Wein in die Spüle kippt.
»Keine Ahnung. Sprengen?«
Archipel taucht tief in die Geschichte einer Insel ein, die für mich zuvor mehr oder weniger eine terra incognita war. Die drei Familien werden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in ihrer rückwärts erzählten Entwicklung plastischer. Zusammen mit der ziemlich repräsentativen Wahl der Familien für die verschiedenen Gesellschaftsschichten entsteht somit ein detailliertes Zeitbild Teneriffas im 20. und frühen 21. Jahrhundert, das nie belehrend oder bemüht wirkt. Auch dass der Roman keinen einfachen Bogen beschreibt, nicht zielgerichtet auf die Lösung eines Rätsels zusteuert, kommt ihm zugute. Dass Probleme der Gegenwart auf ihre historischen Wurzeln zurückgeführt werden, sei aber garantiert. Ein Roman, der die Longlist-Nominierung definitiv verdient hat.
Inger-Maria Mahlke
Archipel *
Rowohlt
432 Seiten | 20 Euro
Erschienen am 21.8.2018
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