Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft werden alle Zeitzeugen der NS-Zeit gestorben und die lebendigen Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte mit ihnen begraben sein. Kolja Mensing hält in seinem dokumentarischen Roman Fels (Verbrecher Verlag) die Erinnerungen seiner Großmutter an den jüdischen Viehhändler Albert Fels fest und schreibt damit auch eine kleine Lokalgeschichte des Nationalsozialismus im dörflichen Niedersachsen.
Albert Fels war alles andere als ein ansehnlicher Zeitgenosse. Die Großmutter des Erzählers wie auch einige Zeitdokumente beschreiben ihn als alkoholkranken, übergewichtigen Mann mit bezeichnendem roten Kopf und einem nie behandelten Leistenbruch, der sich zu einem großen Gewebesack verwachsen hat. Aus diesem Grund trug er in seinen letzten Lebensjahren nur Kittelhosen und weite Hemden, um die Deformierung zu verstecken. Auch seine Scheidung scheint auf den Leistenbruch und die daraus resultierende Impotenz zurückzugehen, denn anders war es in den 1920er Jahren kaum realisierbar, dass eine Frau sich von ihrem Mann scheiden ließ. Und dass er Jude war, konnte sie vor dem Erlass der Nürnberger Gesetze nicht geltend machen.
Doch Albert Fels war nicht immer ein so trauriger Geselle. Von seinem Vater Itzig Fels erbte er ein gut gehendes Viehhandelsgeschäft, das er zusammen mit seinem nicht-jüdischen Partner zu einem regional überaus erfolgreichen Mischung aus Viehhandel und Schlachterei ausbaute. Doch dann kam der langsame Abstieg. In Folge der Nürnberger Gesetze und anderer Erlasse wurden seine Möglichkeiten immer weiter eingeschränkt, schließlich verkaufte er seine Anteile am Geschäft und wurde zum einfachen Knecht, der auf der Diele schlief.
Das Handelsverbot, das Albert Fels getroffen hatte, war nur eine von vielen kleinen Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung im Landkreis. Auch die selbstständigen jüdischen Viehhändler gerieten unter Druck.Tag für Tag wurden neue Plakate an ihre Türen geklebt, »Meidet die Juden!«, »Kauft nicht bei Juden!«, und die ersten von ihnen hatten sich bereits aus dem Geschäft zurückgezogen.
Sein Tod im Jahre 1938 gibt zunächst Rätsel auf. In den Akten eines Sanatoriums findet der Erzähler Hinweise darauf, dass er ermordet worden sein könnte. Nicht ganz unwahrscheinlich, war er doch zu einer Belastung für das Unternehmen geworden, dessen Inhaber ihn aus familiären Gründen nicht herauszuschmeißen wagte. So oder so ist sein Ende traurig: Fast unbemerkt tritt der einst erfolgreiche Händler aus dem Leben, nach einem langen Absturz und ohne, dass ihn jemand wirklich vermissen würde.
Kolja Mensing hält in Fels die Geschichte von Albert Fels fest und bewahrt sie vor dem Vergessen. Seine Hauptquelle ist die eigene Großmutter, für den Fels ein »Onkel« war, ein alter Mann, der zum erweiterten Haushalt gehörte. Unterstützt werden ihre Erzählungen noch durch Akten aus diversen Archiven. Dabei erfahren wir allerdings die Geschichte des jüdischen Viehhändlers eigentlich erst in der zweite Hälfte des Buchs. Die erste ist dominiert von den Erinnerungen der Großmutter des Erzählers, und besonders, wie sie und ihr Mann in den Wirren des Zweiten Weltkriegs zusammenfanden.
Sowohl die nicht-jüdische als auch die jüdische Seite der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg bekommt in Fels seine Anteile. Beide sind – aus Mangel an Dokumenten oder Nachkommen von Albert Fels – aus der nicht-jüdischen Perspektive geschildert, wodurch die Großmutter und ihre Familie entgegen des Titels den Inhalt dominiert. Das tut dem Ganzen aber keinen Abbruch. Als literarische Spurensuche und Bestandsaufnahme zu Albert Fels und der Familiengeschichte der Großmutter des Erzählers funktioniert Fels wunderbar. Es macht den Nationalsozialismus in der niedersächsischen Provinz ein wenig greifbar, genauso wie die Spurensuche in der Gegenwart.
Stilistisch ist Fels schnörkellos und ganz seinem dokumentarischen Charakter verschrieben. Das liest sich mal angenehm und flüssig, mal aber auch ein wenig dröge. Dies liegt vor allem an etwas zu wenig Varianz in Wortwahl und Satzbau, ist aber – wenn man sich für das Thema interessiert – absolut verschmerzbar.
Kolja Mensing hält in Fels ein Kapitel Regionalgeschichte des Nationalsozialismus fest und lässt die Leser*innen aus der Perspektive der Gegenwart in die Vergangenheit abtauchen. Sowohl die Erzählungen der Großmutter als auch Archivdokumente werden zu einer kleinen, dokumentarischen Erzählung verflochten. Mensing bewahrt, was nach dem Tod der Großmutter wohl sonst für immer ins Vergessen abgerutscht wäre. Ein Schicksal, das unzähligen Erinnerungen an die NS-Zeit noch droht.
Fels*
Verbrecher Verlag
176 Seiten | 16 Euro
Erschienen im August 2018
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