Ein Kind stirbt und nichts ist mehr so, wie es vorher war. Sarah Kuttner erzählt in ihrem vierten Roman Kurt (S. Fischer) von Trauer und Hilflosigkeit einer »Stiefmutter« (im besten Sinne) und den Herausforderungen moderner Patchworkfamilien.
Zahlreiche Besprechungen gab es schon zu Sarah Kuttners neuestem Roman. Wo man auch hinschaut, überall Lob. Ich möchte nun einstimmen in den Lobgesang und gleich vorwegnehmen, dass ich schon sehr lange nicht mehr ein SOLCHES Lektüreerlebnis hatte. Ich bin extra früher aufgestanden, um morgens ein paar Seiten zu lesen. Tagsüber im Büro musste ich immer an Kurt denken und abends wollte ich lieber lesen, als zuerst mal was auf Netflix zu schauen. Deshalb: Lest dieses Buch. Ich wüsste nicht, wem ich es nicht empfehlen würde.
Aber nun zur althergebrachten Rezensionsstruktur. Worum geht es in Kurt? Es gibt tatsächlich zwei Kurts in Kuttners Roman – den großen und den kleinen. Mit dem großen führt Hauptfigur Lena, aus deren Sicht erzählt wird, eine Beziehung. Der kleine Kurt ist der Sohn des großen. Die Mutter des kleinen Kurts wiederum wohnt am Rande Berlins, weshalb auch Lena und der große Kurt ganz frisch in ein Haus nach Brandenburg gezogen sind.
Der kleine Kurt pendelt zwischen seiner Mutter und dem neuen Zuhause von Lena und Kurt (groß) – eine moderne Patchworkfamilie mit den dazugehörigen Schwierigkeiten. Lena versucht, eine Bindung zum kleinen Kurt aufzubauen und gleichzeitig den Ansprüchen der Mutter gerecht zu werden. Sie muss ihren Platz in dieser Konstellation noch finden und ist gerade auf einem guten Weg, als das Unvorstellbare passiert. Der kleine Kurt stirbt plötzlich und der große Kurt stürzt in ein tiefes, dunkles Loch, in dem Lena ihn nicht mehr erreicht.
In jedem Fall ist das Aufwachen die Hölle. Diese Sekunden, in denen der Geist sich noch in der Realität des Traumes glaubt, dann aber alles eben Erlebte loslassen muss, um in die entsetzliche Realität geworfen zu werden. Der Moment, in dem alle Synapsen schalten und begreifen. Jeden Morgen ein neuer Tod.
Kurt trauert und lässt Lena außen vor. Stattdessen wendet er sich der Mutter des kleinen Kurts zu, fühlt sich ihr verbundener. So muss Lena nicht nur mit dieser bitterkalten Distanz leben, sondern auch mit ihrer eigenen Trauer allein zurecht kommen. So schmerzlich dieser Prozess für Lena ist – und ich habe extrem mitgelitten –, so gut tut er ihr auch. Sie denkt darüber nach, was sie mit dem kleinen Kurt verband und dass ihre Trauer genauso legitim ist wie das der leiblichen Eltern.
Vielleicht bin ich jetzt offiziell dran mit Streicheln und Tätscheln und Klopfen. Vielleicht werde ich jetzt umarmt und getröstet. Aber Kurt wischt sich den sandigen Hintern ab, blickt rüber zum See und sagt: »Wollen wir los?« Er muss sehen, dass ich weine, aber er dreht sich einfach um und geht. Keine Hand. Kein Rauschen der Blätter im Wind, kein Knacken der Äste.
Sarah Kuttner beleuchtet die Schwierigkeiten von Patchworkfamilien und zeigt, dass eine Eltern-Kind-Bindung keine biologische Verwandtschaft braucht. Und das tut sie auf berührende wie humorvolle Weise. Ich kann mir nur entfernt vorstellen, wie stark dieser Roman auf Menschen mit Kindern wirken muss, wenn er mich schon so wahnsinnig erschüttert hat. Ein Must-Read für’s Frühjahr!
Weitere Besprechungen findet ihr u.a. auf Buzzaldrins Bücher, Literat(o)ur und Leseschatz.
Sarah Kuttner
Kurt*
S. Fischer
240 Seiten | 20 Euro
Erschienen am 13.3.2019
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Hauke