Svenja Gräfen nimmt uns in ihrem zweiten Roman Freiraum (Ullstein fünf) mit in ein Hausprojekt am Rande der Stadt, das nur auf den ersten Blick als gelungenes Beispiel für den Traum vom kollektiven Wohnen herhält.
Vela und Maren führen eigentlich eine glückliche Beziehung. Sie wohnen zusammen, lieben sich und wünschen sich ein Kind. Alles perfekt, wenn da nicht die laute Straße und die marode Wohnung zum überteuerten Preis wären. Das Leben in der Großstadt – es könnte so schön sein, doch der Wohnungsmarkt und das ständige Gehetzt-Sein machen vielen einen Strich durch die Rechnung. So geht es auch Vela und Maren, und das kratzt an ihrer Beziehung.
Es bleibt keine Zeit für mehr als ein Abklatschen. Maren betritt die Wohnung, Vela verlässt sie. Im Kuss drehen sie sich aneinander vorbei. Vela: Ich lieb dich. Maren: Bis nachher.
Wenig erstaunlich ist deshalb der Trend, raus auf’s Land zu ziehen. Dass im Hausprojekt von Marens Schwester am Rande der Großstadt – eine konkrete Stadt wird nicht benannt, das Szenario würde aber perfekt auf Berlin passen – gerade jetzt ein Zimmer frei wird, kommt wie gerufen. Maren und Vela ziehen ein und wohnen nun unter einem Dach mit Marens Schwester Jo, deren Kind Eli und ihrem Freund Karsten, mit Darek, Nat, Theo und dessen Freundin Ellen. Zu neunt leben sie dort, kochen zusammen, machen Ausflüge zum Hofladen und genießen die Gemeinschaft fernab der lauten Fernverkehrsstraßen. Doch bald schon bekommt die Friede-Freude-Eierkuchen-Fassade erste Risse und Vela wird es – trotz Marens ungebremster Euphorie – in dem Hausprojekt zunehmend unheimlicher. Am Ende gibt es sogar einen kleinen Showdown, in dem klar wird, dass vor allem Theo nicht der fürsorgliche Best Buddy ist, der er vorgibt zu sein.
Nachdem ich Svenja Gräfens Debüt Das Rauschen in unseren Köpfen so sehr gemocht habe, musste ich unbedingt auch ihren zweiten Roman lesen. Und ich wurde nicht enttäuscht, auch wenn Freiraum in vielerlei Hinsicht sehr anders ist als Gräfens Debüt. Rein thematisch ist es wesentlich politischer und spricht eine ganze Generation an, zu der wohl auch ich zähle – die Generation Y. Steigende Mieten in der Großstadt, der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben fernab der städtischen Zwänge und das Ausprobieren neuer Beziehungs- und Wohnkonstellationen sind nur einige der angesprochenen, gesellschaftlich relevanten Themen in Freiraum. Sehr sympathisch finde ich, dass das Wohnen im Kollektiv nicht glorifiziert, sondern kritisch hinterfragt wird. Das hat mich stark an Anke Stellings Bodentiefe Fenster erinnert.
Darüber hinaus ist Freiraum wahrscheinlich das diverseste Buch, das ich bisher gelesen habe. Die Diversität liefert uns Gräfen ganz selbstverständlich und unmittelbar, ohne erhobenen Zeigefinger. Vela und Maren führen eine lesbische Paarbeziehung, es gibt Protagonist*innen mit Migrationshintergrund, Eli wird konsequent als »Kind« bezeichnet ohne jegliche Geschlechtszuschreibung. Auch sprachlich bemüht die Autorin sich um gendergerechte Formulierungen: Es werden abwechselnd männliche, weibliche und neutrale Formen verwendet, Sprichwörter und Redewendungen werden angepasst. Ich muss zugeben, dass mich die gendergerechte Sprache anfangs irritiert und auch herausgefordert hat. Allerdings habe ich mich schnell daran gewöhnt und wieder gemerkt, dass Sprache im Wandel und schlichtweg Gewohnheitssache ist – vor allem das generische Maskulinum. Umso wichtiger, dass Autor*innen wie Svenja Gräfen auch im Literarischen darauf aufmerksam machen.
Auch sonst ist ihr Schreibstil sehr klar und unvermittelt, allein die vielen Wiederholungen und Ellipsen haben mich ein wenig gestört – hier hätte man gut noch kürzen können, um das Ganze etwas knackiger zu machen. Aber nichtsdestotrotz zählt Freiraum zu meinen absoluten Frühjahrshighlights. Spannend erzählt, divers, politisch.
Hier gibt es übrigens eine passende Spotify-Playlist zum Roman – kuratiert von Svenja Gräfen. Weitere Rezensionen findet ihr u.a. auf Noch mehr Bücher und beim Tagesspiegel.
Svenja Gräfen
Ullstein fünf
304 Seiten | 20 Euro
Erschienen am 29.3.2019
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