Wie sähe unsere Welt aus, wenn wir einfach nichts ändern würden? So tun, als gäbe es keine Probleme auf unserem Planeten? Milchzähne (Blumenbar) von Helene Bukowski zeigt eine Welt, die gar nicht mal so unwahrscheinlich ist. Das Erzählen vergisst sie dabei auch nicht.
Die Welt, in der Skalde mit ihrer Mutter Edith wohnt, ist karg. Schlicht als »die Gegend« wird der Landstrich bezeichnet, und die Gegend ist alles was sie und die wenigen anderen Bewohner noch sicher kennen. Sich draußen aufzuhalten ist kaum noch möglich, da die Sonne erbarmungslos vom Himmel brennt. Die Hitze ist allgegenwärtig und vernichtet das Leben in all seinen Facetten jeden Tag ein klein wenig mehr. Ackerbau wird immer schwieriger, es gibt wenig Wasser, an Regen ist nicht zu denken.
Das Zusammenleben der Menschen hat sich auf einen marginalen Handel beschränkt. Die wenigen Nahrungsmittel, die sich noch anbauen und züchten lassen, werden untereinander getauscht. Die wenigen Geräte, die übrig geblieben sind, stellen die größten Werte dar. Die Menschen leben reduziert, von der Hand in den Mund, eingefahren in die Routine des harten Alltags.
Schließlich hatten wir uns, so weit es eben ging, in der neuen Situation eingerichtet. Die Böden werfen immer noch einen kleinen Ertrag ab. Die Kaninchen und Hühner haben das große Sterben der Tierwelt überlebt. Auch mit der Hitze können wir uns arrangieren. Wir sind genügsam, so können wir ein einfaches Leben führen.
Bis eines Tages ein Mädchen mit leuchtend roten Haaren vor Skalde steht. Niemand in der Gegend hat rote Haare, niemand hat das Kind je zuvor gesehen. Skalde entscheidet sich, es bei sich aufzunehmen. Zum Missfallen der anderen Bewohner. Denn wenn irgendetwas schlimmer ist als die Härten des alltäglichen Lebens, dann ist es Veränderung. Und Fremde will will nun wirklich niemand. Schnell wird Meisis, wie das Mädchen heißt, zum Sündenbock für alle Ereignisse, wird die Stimmung immer feindseliger.
Milchzähne lebt von seiner überaus kargen Sprache, in der Skalde ihren Bericht schildert. Nur gelegentlich wird er von fast poetischen Notizen unterbrochen, die sie früher aufgeschrieben hat und als Grundlage für ihr Schreiben nutzt. So folgt ein kurzes Kapitel auf das andere, und die Stimmung wird mit jedem Kapitel düsterer, bedrückender, als würde eine Schlinge langsam, aber unaufhaltsam enger gezogen. Das Drücken der Hitze, die Enge der Gegend mit ihren wenigen Bewohnern wird atmosphärisch sehr gut transportiert.
Die Menschen erinnern an white trash Hillbillys, als wären amerikanische Survivalist*innen am Ende tatsächlich die einzigen gewesen, die den brutalen Klimawandel überleben können. Die nordischen Namen deuten außerdem darauf hin, dass die Gegend irgendwo in Skandinavien liegen könnte, die Hitze also schon in den gemäßigtsten Regionen angekommen ist. Von einer offenen Gesellschaft, wie wir sie heute im Westen größtenteils genießen dürfen, ist auch nicht mehr viel übrig. Feindseligkeit hat das Ruder übernommen, Nationalismus ist in Tribalismus übergegangen. Wir sind praktisch zurück am Anfang des menschlichen Zusammenlebens.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Meisis’ Milchzähne zu ihrem Schicksal werden sollen. Denn die Milchzähne bzw. deren Verlust im Kindesalter ist zum Erkennungszeichen der Menschen der Gegend geworden. Der echten Menschen, sozusagen. Bei Paul Celan ist dies das Schibboleth, dieses eine Zeichen, das einen Menschen für die eine Gruppe zum Menschen, für die andere aber zum bloßen Feind werden lässt. Wer die Milchzähne nicht verliert, gehört nicht in die Gegend und bringt Verderben. Kein Wunder, dass die meisten Bewohner Meisis am liebsten gleich erschießen würden.
Helene Bukowski legt mit Milchzähne ein gelungenes Debüt vor, das Klimaerwärmung und Nationalismus zusammen weiterdenkt und uns eine Geschichte erzählt, die in der Endzeit unserer Welt spielt. Sie braucht dabei praktisch keine Genre-Elemente, sondern kann sich komplett auf unsere heutige Welt stützen. Denn wenn nichts passiert, es keinen grundlegenden Wandel in der Lebensweise und Politik der Industrieländer gibt, dann wird es auch keine Weiterentwicklung mehr geben.
Helene Bukowski
Blumenbar
256 Seiten | 20 Euro
Erschienen im April 2019
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Eine sehr gute Rezension. Hier finden wir einen Kult und zwei Mädchen, die vielleicht entkommen können. Was mir aufgefallen war ist, dass alle Protagonisten weiblich sind, und hier klare feministische Ideologie zum Vorschein kommt. Der Gegner ist der graue weiße Mann und das Patriarchat. Ja, und dann noch das Klischee des Klimawandels. Trotzdem ein guter Roman, den man weiterempfehlen kann. Übrigens, ein schöner Bücherblog! Immer weiter so!
Ihr
Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied
Danke für das Lob! Und noch viel mehr dafür den Aspekt hervorzuheben, der bei mir ganz unterging: Die feministische Emanzipation gegen das alt gewordene Patriarchat, auf dessen Kappe der Klimawandel, unter dem alle Menschen und Tiere der »Gegend« leiden, geht. Da schließt sich noch ein Kreis, der dieses Debüt absolut bemerkenswert macht.
Viele Grüße,
Stefan
[…] ++ Poesierausch […]
Hallo,
ja, ich habe das Gefühl, dieses Szenario ist schon kräftig in Arbeit. Zu viele Leute tun so, als gäbe es keine Probleme – keine Klimaerwärmung, keine Luft- und Lichtverschmutzung, kein Artensterben, etc…. Oder sie räumen ein, dass es diese Probleme gibt, sehen aber keine Veranlassung, an ihrem eigenen Verhalten etwas zu ändern. Deppen wie Trump helfen da nicht, denn wenn der amerikanische Präsident sagt, diese Probleme gibt es nicht, werden Millionen von Menschen dem folgen.
Das Buch klingt sehr interessant, schöne Rezension!
Ich habe mir das eBook direkt mal bei der Onleihe vormerken lassen – im Moment sieht es so aus, dass ich so weit hinten in der Warteschlange stehe, dass ich es am 15. November runterladen kann… Das zeigt ja, dass ein großes Interesse an dem Buch besteht!
LG,
Mikka
Liebe Mikka,
Danke für deinen Kommentar! Ja, die Bereitschaft, wirklich etwas zu ändern, ist sehr klein, da brauchen wir noch nicht mal über den Atlantik zu schauen. Auch in Deutschland tut sich viel zu wenig. Erschreckend!
Ich hoffe aber, dass du das Buch noch früher bekommst als erst im November.
Liebe Grüße,
Stefan
Hallo Stefan,
das hoffe ich auch, aber es springen eigentlich immer Vormerker ab! 🙂
LG,
Mikka
Hallo Stefan,
deine Rezension gefällt mir ausgesprochen gut! Gerade die letzten beiden Abschnitte deiner Rezi reizen mich, das Buch zu lesen. Das Buch habe ich hier liegen und werde es demnächst lesen. Freue mich schon darauf. Ich hoffe, dass es mich ebenso überzeugen wird wie dich. Hätte ich das Buch nicht schon, hätte ich es mir spätestens jetzt gekauft.
GlG, monerl
Liebe monerl,
Vielen Dank für deinen Kommentar, jetzt hoffe ich natürlich auch sehr, dass dir der Roman gut gefällt!
Liebe Grüße,
Stefan