Marijke Schermer: Unwetter

Das Bewusstsein ist ein eigenartiges Ding. Unwetter von Marijke Schermer (Kampa) zeigt eine Frau, die ein einschneidendes Erlebnis so lange verdrängt, bis es mit Gewalt wieder aus ihr herausbricht und damit ihr ganzes Leben aus der Bahn wirft.

Marijke Schermer: Unwetter

Emilia und Bruch führen eine glückliche Ehe. Sie sind seit Jahren zusammen, verheiratet, haben zwei Kinder und ein neues Projekt: ein Haus im Grünen. Weit vor den Toren Amsterdams, im Deichvorland, haben sie ein alten Haus mit Grundstück gekauft, dass sie Stück für Stück umbauen und zu ihrem ganz eigenen Heim machen wollen.

Auch wenn das wegen der Kinder, der Arbeit – Emilia ist Statistikerin, Bruch Arzt – und der Fülle an kleineren und größeren Baustellen noch nicht so wirklich funktioniert, fühlen sich alle sehr wohl. Doch eines Abends im Amsterdamer Theater reißt ein dummer Streich eines Bekannten das ganze Kartenhaus von Emilias glücklichem Leben ein.

Denn Emilia wurde vor Jahren misshandelt und vergewaltigt. Dieses Erlebnis hat sie nie verarbeitet, sondern schnell verdrängt und sich dann Hals über Kopf in die Beziehung mit Bruch gestürzt. Sie wollte sich nicht noch mehr zum Opfer machen als sie es eh schon war, wollte sich nicht definieren lassen über eine Gewalttat, auf die sie keinen Einfluss hatte. Ihr Leben selbst bestimmen. Dies hat die Erinnerung in ihr so weit weggeschoben, in die letzten Ecken ihres Bewusstseins, dass sie auch für sie praktisch weg war.

Doch der kleine Streich bringt alles zurück, der kleine Kontrollverlust bringt das unverarbeitete Trauma in voller Stärke zurück in ihr Bewusstsein. Alles, was in ihrem Leben sicher war, wovon sie selbst überzeugt, worin sie glücklich war, verliert mit einem Schlag seine Selbstverständlichkeit, das ganze Konstrukt ihres glücklichen Familienlebens bekommt Risse und droht, in sich zusammenzufallen.

Marijke Schermer erzählt in Unwetter mit leichter Distanz aus der dritten Person von Emilias Weg durch das wieder aus dem Unterbewussten aufgetauchte Trauma. Sie hält sich zwar personal an Emilia, taucht in ihre Gedanken ein, versenkt sich jedoch nie so tief, dass ein Bewusstseinsstrom entstehen würde. So bleibt genug Raum, um sich die Gedankenwelt selbst vorzustellen, die Emilia überflutet.

Sie ergriff die Flucht, die Flucht vor ihrer Dummheit, vor dem naiven Gedanken, dass es so einfach sein würde. Fluchend und mit den Tränen kämpfend lief sie durch den Park. Stieg in die falsche Straßenbahn, stieg wieder aus und ging zu Fuß weiter. Der Himmel hatte sich zu einer geschlossenen Decke zugezogen, es war Herbst, es war kalt, die Stadt und alle Passanten kamen ihr feindselig vor.

Und nicht nur Emilia. Denn ganz in der Tradition moderner (und auch gar nicht so moderner) Klassiker spiegelt Schermer das Innenleben ihrer Hauptfigur nach außen. Das Leben ihrer Familie wird von innen und außen bedroht. Schwere Regenfälle, eben das titelgebende Unwetter, sorgen für ein historisches Hochwasser, das das Deichvorland überschwemmt. Mit jeder gelesenen Seite steigt das Wasser höher, wird die Stimmung beklemmender, zieht sich wie eine Schlinge um den Hals zu.

So bekommt Unwetter auf den letzten Seiten fast schon expressionistische Züge, wenn sich die Schlinge zuzieht, um Emilia, um Bruch, um die Leser*innen. Die Distanz, die die Erzählhaltung zu Anfang kennzeichnet, wird so immer geringer, je mehr Emilias Unterbewusstsein mit Gewalt an die Oberfläche zurückbricht, ohne jedoch ihre eigenen Gedanken komplett in die Mitte zu rücken.

Das macht Unwetter zu einer alles andere als leicht verdaulichen Kost und damit zu einem für mich absolut empfehlenswerten Buch. Natürlich mit der Triggerwarnung, dass hier eine Vergewaltigung zwar nicht in allen Details und direkt, aber über die Länge des Buchs doch immer wieder etwas mehr beschrieben wird. Ein beeindruckender kleiner Roman, der im Gedächtnis bleibt und das Thema Vergewaltigung auf eine ebenso feinfühlige wie eindringliche Art behandelt.

Marijke Schermer: Unwetter

Marijke Schermer

Unwetter *

Kampa Verlag

192 Seiten | 20 Euro

Erschienen am 11. März 2019


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Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Hallo,

    das klingt nach einem großartigen Buch, auch wenn es mir sicher etwas an die Nieren gehen wird – aber wie war das mit Kafkas Axt und dem gefrorenen Meer in uns? Die interessantesten Bücher sind ja die, die uns aus der Komfortzone holen.

    LG,
    Mikka

    • Hallo Mikka,
      Das Buch ist wirklich toll, aber natürlich auch aufrüttelnd und erschreckend. Ich bin da aber ganz auf deiner Seite: ein Buch muss bewegen, auch wenn es vielleicht unbequem ist.
      Liebe Grüße,
      Stefan

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