Freund*innen lesen #11: GRM

Wir halten Wort und legen nach: Heute stellt Jens den aktuellen Roman von Sibylle Berg vor. GRM ist in jeglicher Hinsicht ein Brett.

Sybille Berg: GRM

Sibylle Berg
GRM
Kiepenheuer&Witsch
640 Seiten | 25 Euro
Erschienen am 11.4.2019

Das Besondere?

In GRM. Brainfuck spielen weder Hauptitel (GRM=Grime) noch Untertitel (Brainfuck) auf den ersten Blick ein entscheidende Rolle. Vier auf verschiedenste Arten traumatisierte Jugendliche versuchen sich zwar mal kurz als Grime-Musiker, werden im dystopischen Elend eines Post-Brexit-Großbritanniens aber primär und wiederholt von unsichtbaren Mächten (Regierung, Hacker, AIs etc.) sowie einer verranzt-verrohten Gesellschaft misshandelt. Wie steht es mit dem versprochenen Brainfuck? Dazu sei etwas weiter ausgeholt.

Das Thema Überwachungsstaat wurde unzählig oft in Romanen thematisiert, doch eher selten derart auf der Grenze zum Zynismus balancierend. Knapp ein Dutzend Protagonisten finden sich in eine hoffnungslose, durchdigitalisierte Welt geworfen wieder, in der u.a. Social Media, Konsumfetisch und ein pervertiertes Konzept des Grundeinkommens jeglichen Zusammenhalt der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten aufgelöst haben. Sibylle Bergs Beschreibungen sind schonungslos und oft derart unbarmherzig, dass man als Leser*in selbst in die Rolle des Überwachers zu geraten scheint. Fein säuberlich dokumentiert man lesend die offensichtliche Misere aller Beteiligten, die letztendlich deutlich als Kritik an gegenwärtigen Zuständen durchscheint. So fällt es manches Mal auch schwer, für sich zu entscheiden, wie nahe wir der düsteren, drastisch artikulierten Zukunftsvision in GRM schon gekommen sind und was uns schlimmstenfalls noch bevorsteht. Das ist dann wohl der versprochene Brainfuck.

Für wen?

Für noch nicht völlig in Netflix verlorene Fans von Black Mirror, an den potentiellen Auswirkungen des chinesischen Social-Credit-Systems Interessierte sowie zynismusresiliente Leser*innen, die sich gerne mal 600+ Seiten leicht lesbarer und schwer deprimierender Dystopie slash Coming-of-Age-Story antun möchten.

Jahreszeitenlektüre?

Definitiv ein urbaner Winter, da sowohl das als Kulisse dienende, dystopische Großbritannien stets kalt und dauergrau erscheint als auch die Sprache Bergs – insbesondere gegenüber den im Buch vorkommenden Charakteren – so herzerwärmend wie ein Berliner Februar ist.

Song zum Buch?

Lieblingszitat?

»Guten Tag, ich bin Matratzenhändler, habe eine endogene Depression, weil ich mein Alter begriffen habe. Weil ich verstanden habe, dass mir die Zeit weggelaufen ist und ich zu lange damit verbracht habe, mich zu finden, und dann habe ich mich gefunden, und das war nichts Besonderes. Da war kein Genie in mir, nichts. Und ohne so eine Genialität ist das Sein doch nur die Anmietung kleiner Rotklinker-Häuser in baumlosen Straßen, die wirken, als wären sie in einem Briefbeschwerer untergebracht.« »Ach, interessant«, sagt dann der angesprochene Mann. »Mir geht es genauso. Lassen Sie uns sofort in Ihr Reihenhaus gehen und die Angst wegficken.« […] Und nun steht der Matratzenhändler auf einer der Brücken. […] Die Selbstmordrate in Europa ist alarmierend gestiegen, hieß es in diversen Medien. Wer sollte da alarmiert sein? Diejenigen, die sich umbringen, folgen einem unausgesprochenen gesellschaftlichen Auftrag. Sie sind nicht nützlich und beanspruchen dennoch Lebensraum. Zeit, Selbstmord neu zu framen.

Vielen Dank, lieber Jens.

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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