Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Kintsugi bezeichnet das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu reparieren. In Miku Sophie Kühmels gleichnamigem Debütroman (S. Fischer) geht nicht nur eine Teeschale zu Bruch, sondern auch zwischen alten Vertrauten bilden sich kleine Risse.

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Anfang des Jahres, ein Ferienhaus in der Uckermark, der See ist noch gefroren. Max und Reik sind seit zwanzig Jahren ein Paar, ihr Jubiläum wollen sie abgeschottet in ihrem Wochenendhaus in Brandenburg begehen. Nur ihr enger Freund Toni und dessen Tochter Pega sind eingeladen. Und wir – die Leser*innen. Ganz nah lassen uns die vier Figuren an sich heran, nehmen uns mit in ihre Vergangenheit, auf Spaziergänge um den noch gefrorenen See und hinein in ihre tiefsten Empfindungen. Erzählt wird in vier großen Abschnitten, aus der Ich-Perspektive jeweils einer der Figuren. Strukturiert werden diese Innenansichten durch Texteinschübe, die in Anlehnung an klassische Dramentexte konzipiert sind und das Zusammenkommen bei den Mahlzeiten dokumentieren.

Zunächst erzählt Max. Wir erfahren von seinem Aufwachsen bei der Hippie-Mutter in der Kommune, von seiner Liebe zu Reik, von seiner Archäologie-Professur an einer Berliner Uni. Schon hier wird klar: Max ist eher zugeknöpft, vorsichtig und wirkt schnell belehrend. Ganz anders sein Partner Reik. Er ist der Inbegriff der extrovertierten, flippigen Künstlerseele, die immer wieder in sich zusammenbricht. Sein Anker in jeglichen schweren, von Alkohol und Drogen geprägten Zeiten: Max. Wir erfahren weiter, dass Reik eine schreckliche Kindheit gehabt haben muss, vor allem eine Mutter, die alkoholkrank war.

Reiks früher Lichtblick war Tonio – Barpianist und eine seiner ersten Affären. Heute ist Tonio alleinerziehender Vater, konnte Max nie richtig an Reiks Seite akzeptieren und sehnt sich nach all den Jahren voller Hingabe für die Erziehung seiner Tochter Pega nach einer neuen Liebe. Und dann ist da noch Pega, die einzig weibliche Perspektive in diesem Roman. Max und Reik sind wie Ziehväter für sie, beide liebt sie abgöttisch und den einen vielleicht einen Ticken zu sehr.

Während jede der Figuren uns eindrücklich unter Beweis stellt, wie sie zu der Person werden konnte, die sie heute ist, spürt man immer mehr, dass sich zwischen den Freunden / Geliebten / Verwandten kleine Risse auftun. Diese Risse wachsen von Seite zu Seite, bis sie schließlich nicht mehr einfach gekittet werden können. Mit ihrem Debüt legt Miku Sophie Kühmel ein eindringliches Kammerspiel vor, das von seiner ruhigen, aber unterschwellig brodelnden Atmosphäre lebt. Der gesamte Roman schildert nur einen einzigen Tag, ist jedoch so verdichtet, dass man dies zwischenzeitlich kaum glauben mag.

Die Dämmerung hat das beste Licht. Das blasse, kühle Blau, nur noch im Augenwinkel gähnende Laternen. Der Wunsch, dass es nie wärmer und heller wird als in diesem Moment, halbnackt in die plüschige Decke gewickelt, die Beine baumeln lassen aus dem bodentiefen Fenster, an den Sessel gelehnt.

Einziges Manko: Die vier Erzählstimmen klingen mir viel zu ähnlich. Wenn schon vier Perspektiven, dann gern mit deutlicher sprachlicher Abgrenzung. Ganz allgemein gefiel mir der melancholische Erzählton, auch wenn er stellenweise für meinen Geschmack etwas zu ausgeschmückt war und ein sprachliches Bild das nächste gejagt hat. ((Hierzu empfehle ich die sehr treffende Rezension von Marius auf seinem Blog Buch-Haltung.))

Aber trotzdem: Für mich ist Kintsugi schon jetzt ein Herbst-Highlight. Der Romanaufbau ist raffiniert, die psychologisch durchdachten Innenansichten der Figuren setzen sich wie kleine Puzzleteile zu einem großen Ganzen zusammen. Dabei erzählen die Figuren immer nur das, was sie die Leser*innen wissen lassen wollen. Dass Max als Kind sexuell missbraucht wurde, erfahren wir beispielsweise nicht von ihm selbst. Er beschreibt seine Kindheit als glücklich – die Schattenseiten deckt erst Reik in seinem Teil auf. So fiel es mir als Leserin schwer, klare Sympathien für eine der Figuren zu entwickeln, was wiederum die Lektüre so interessant werden ließ. Die unzuverlässige Erzählstimme at its best.

Auch die Jury für den Deutschen Buchpreis 2019 scheint sehr begeistert von Kintsugi und wählte das Debüt auf die Shortlist. Ich würde Miku Sophie Kühmel den Preis in jedem Fall sehr gönnen und drücke ihr die Daumen.

Weitere Rezensionen findet ihr u. a. auf Literaturen, Bleisatz und Textmagazin.

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Miku Sophie Kühmel

Kintsugi

S. Fischer

304 Seiten | 21 Euro

Erschienen am 28. August 2019

Filed under Blog, Deutscher Buchpreis 2019, Rezensionen

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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