Vor Kurzem überkam mich eine ungewöhnlich lange Leseflaute: Vier Bücher habe ich angefangen, aber keines motivierte mich zum Weiterlesen. Doch dann nahm ich zum Glück Marzahn, mon amour (Hanser Berlin) von Katja Oskamp zur Hand und fand ganz unerwartet mein Lesehighlight des Jahres.
Die Autorin Katja Oskamp steckt mit Mitte vierzig in einer Midlife-Crisis: Für ihre neueste Novelle kassiert sie nur Absagen, die Kinder sind aus dem Haus und der Mann krank. Das Leben ist grau und plätschert vor sich hin, Oskamp fühlt sich geradezu unsichtbar. Also beschließt sie 2015, nochmal etwas ganz Neues zu lernen, ihrem Leben mit einem »echten Handwerk« wieder auf die Sprünge zu helfen. Zusammen mit anderen Frauen, denen es ähnlich geht, macht sie eine Schnellausbildung zur Fußpflegerin.
Wir waren ganz unten bei den Füßen angelangt, an denen wir, nichtsdestotrotz, scheiterten.
Nach bestandener Prüfung beginnt sie, in der einst größten Plattenbausiedlung der DDR, im Berliner Bezirk Marzahn, als Fußpflegerin zu arbeiten. Sie mietet sich kurzerhand im Kosmetikstudio von »Flocke« ein, im Erdgeschoss des Plattenbaus. In Marzahn, mon amour berichtet Oskamp auf wahnsinnig liebevolle Weise in kurzen Porträts über ihre Zeit dort.
Da gibt es zum Beispiel Herrn Paulke, einen Marzahner Ureinwohner, Erstbezügler der Plattenbausiedlung von 1983. Herr Paulke hatte bei Autotrans, der größten Spedition der DDR, gearbeitet. Die Wende kam für ihn überraschend, genauso der Krebs. Während seiner Fußpflegetermine erzählt er Oskamp, wie wichtig sein Job damals in der DDR war und welche neuen Operationen für ihn nun anstehen. Die Autorin zeichnet mit Herrn Paulke das Porträt eines Mannes, der in einem Land aufgewachsen ist, das es heute nicht mehr gibt.
Immer wenn ich über Herrn Paulkes flockige Sprüche lachte, zeigte sich eine hauchzarte Regung in seinem Gesicht, eine Mischung aus Ungläubigkeit, Stolz und Scham. Er war nicht mehr gewohnt, dass man auf ihn reagierte.
Auch äußerst witzige Begegnungen beschreibt Katja Oskamp, zum Beispiel im Fall von Herrn Pietsch, einem ehemaligen SED-Parteifunktionär. Herr Pietsch war in der DDR ein hohes Tier, heute ist er ein verschrobener, sehr einsamer, dem System der DDR hinterhertrauernder Rentner. In sachlichem SED-Ton berichtet er der Autorin von seiner noch funktionierenden, allerdings nicht mehr zum Einsatz kommenden Erektion. Die Frage, ob Katja Oskamp nicht gern mal mit ihm sexuell aktiv werden würde, verneint die Autorin, womit das Thema dann ganz à la Parteitagesordnung wieder erledigt ist. Was an anderer Stelle als sexuelle Belästigung durchgehen würde, ist hier nur Zeichen für das Verhaftetsein in einem fast vergessenen System.
Anders ist es bei Mutter und Tochter Noll. Die beiden sind nie allein, denn sie haben ja sich. Doch schnell wird deutlich, dass dies keine wirklich gesunde Mutter-Tochter-Beziehung ist. Mutter Noll ist alt und gebrechlich, läuft am Rollator. Tochter Noll, nie von zu Hause ausgezogen, hat nur noch harsche Worte für ihre Mutter übrig und hält sie klein. Mutter Noll hat sich über die Jahre ihrem Schicksal ergeben und redet so gut wie gar nicht, denn das übernimmt ja ihre Tochter für sie.
An Mutter Nolls Füßen gibt es wegen der Käfighaltung keine Hornhaut. Ich lege das Paddel weg und wage es: »Frau Noll«, sage ich laut und ihr zugewandt, damit sie meine Lippen lesen kann, »was sind Sie denn früher von Beruf gewesen?« Mutter Noll stutzt, strafft sich gar. Sie hat es verlernt, sich zu unterhalten, aber jetzt gibt sie sich große Mühe.
Dies sind nur einige Beispiele für die Menschen, die Katja Oskamp während ihrer Zeit als Fußpflegerin in Marzahn kennengelernt hat und in ihrem Buch auf liebe- und vor allem respektvolle Weise porträtiert. Die Autorin schreibt über Menschen, die von der Gesellschaft zurückgelassen wurden, von den besser situierten oft als »einfache Menschen« bezeichnet werden. Sie schreibt über Menschen, die den Lebensmut verloren haben und sie schreibt über Menschen, deren schönste Stunden im Monat der Besuch bei der Fußpflege sind – weil sie dort berührt werden, weil sich jemand mit ihnen unterhält und sie sich für ein paar Minuten weniger einsam fühlen.
Genau wie Katja Oskamp habe auch ich beim Lesen jede*n Einzelne*n in mein Herz geschlossen und dabei gemerkt, wie ich viel zu oft Menschen zu schnell abstemple und in eine Schublade stecke. Marzahn, mon amour ist ein Plädoyer dafür, hinter die Fassade zu schauen und sich bewusst zu machen, dass jeder Mensch geprägt ist von der Vergangenheit.
Ich bin schon seit Längerem ein großer Fan der Hanser Berlin-Memoirs, von beispielsweise Daniel Schreiber oder Mohamed Amjahid. Aber Katja Oskamp hat mit Marzahn, mon amour mein bisher liebstes Memoir geschrieben. Wenn es nur ein Buch gibt, das jede*r in diesem Jahr gelesen haben sollte, dann ist es für mich dieses.
Katja Oskamp
Marzahn, mon amour
Hanser Berlin
144 Seiten | 16 Euro
Erschienen am 22.7.2019