Daniel Schreiber: Zuhause

Vor ein paar Wochen habe ich mal wieder meine Eltern in dieser kleinen Stadt mitten in Brandenburg besucht. Mit dabei war auch der neue Essay des Autors und Kunstkritikers Daniel Schreiber: Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen (Hanser Berlin). Schnell merkte ich, dass ich mir mit der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einen ganz besonderen Ort für die Lektüre ausgesucht hatte.Daniel Schreiber: Zuhause

Alles fing für Daniel Schreiber mit einer Trennung von seinem damaligen Freund an, die auch, wie jede Trennung, ein Auslöschen der gemeinsamen Zukunft bedeutete. Schreiber verspürte daraufhin eine starke Sehnsucht, die er zunächst nicht deuten konnte. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass er nicht nur seinen Freund vermisste, sondern sich vielmehr nach einem Ort der Geborgenheit sehnte, nach einem Zuhause.

Ich sehnte mich nach einem Zuhause, jedoch ohne eine Ahnung davon zu haben, wo und was dieses Zuhause sein könnte.

Also begab der Autor sich auf die Suche und tastete sich heran an diesen kaum fassbaren Begriff, der mit einem Ankommen, einem bedingungslosen Wohlfühlen einhergeht. Er holt sich dabei Hilfe von großen Autor*innen und Philosoph*innen. Klug und mit offenen Augen verwebt er so seine persönliche Geschichte mit den Erkenntnissen und Erlebnissen von Hannah Arendt, Vilém Flusser oder Joan Didion. In insgesamt acht Kapiteln stellt sich Schreiber auf ebenso poetische wie philosophische Weise seinen Empfindungen und der Frage, was ein Zuhause überhaupt ist und sein kann.

Zunächst durchforstete Schreiber sein eigenes Leben und die seiner Vorfahr*innen. Seine Urgroßmutter, geboren im damaligen Wolhynien in der Westukraine, musste in ihrem Leben dreimal flüchten, sich dreimal neu ansiedeln, sich dreimal an einen neuen Ort und deren Menschen gewöhnen. Zuhause-Gefühle, so Schreiber, kannte sie nur selten. Hier geht der Autor auch kurz auf die vielen Geflüchteten ein, die ebenfalls von heut auf morgen ihr Zuhause verlieren und sich womöglich immer fremd fühlen werden.

Trotz solcher Verknüpfungen zu aktuellen politischen Geschehnissen bleibt Zuhause in erster Linie aber ein sehr persönlicher Essay. Wir erfahren viel aus Schreibers Leben. Vor allem die Erzählungen aus seiner Kindheit haben mich erschüttert. Schreiber ist zu DDR-Zeiten in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. Aufgrund seines femininen Auftretens sah man ihm schon früh an, dass „aus ihm später einmal ein schwuler Mann würde.“ Daraufhin wurde er im Kindergarten, in der Schule, von Lehrer*innen und Mitschüler*innen drangsaliert und vehement ausgeschlossen. Die Erlösung brachte dann der Mauerfall. Der Autor beschreibt hier nicht nur, wie ein politisches System eine Kindheit zerstören, sondern auch, wie solch eine zerstörte Kindheit die Verbindung eines Zuhauses mit dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, für immer kappen kann.

Wenn man als Kind eine derartige Ausgrenzung erlebt, kann man sich dort, wo man aufgewachsen ist, nicht sicher, nicht zu Hause fühlen.

Als ich von meinen Eltern wegzog, habe ich immer versucht, zwischen meinem alten und meinem neuen Wohnort zu unterscheiden, indem ich die kleine Stadt in Brandenburg als „Heimat“ und mein neues Zimmer in der mittelgroßen Studierendenstadt als „Zuhause“ bezeichnete. Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass meine Wurzeln irgendwie bei meinen Eltern und diesem Ort bleiben. In den letzten Jahren habe ich aber immer mehr von dieser Unterscheidung Abstand genommen. Irgendwie haftet dem Heimatbegriff etwas Seltsames an. Daniel Schreiber bringt das in seinem Essay noch einmal auf den Punkt, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Begriffen sehr klar herausstellt. Im Heimatbegriff sieht er lediglich Kitsch, eine kollektive Abwehrhaltung und einen nostalgisch verklärten Sehnsuchtspunkt, während ein Zuhause ein Ort ist, an dem wir ankommen und glücklich sein können. Es ist auch ein Ort, den wir uns nach Schreiber erarbeiten müssen.

Der Autor hat es selbst erlebt. Seit Jahren lebte er in Berlin, doch fühlte sich in dieser Stadt nie wirklich zu Hause, weshalb es ihn immer wieder für mehrere Monate ins Ausland zog. Zugegeben, diese Stadt, in der ich ja auch lebe, macht es seinen Menschen nicht immer leicht, sich hier wohlzufühlen und auch ich verspüre oft diese diffuse Anonymität, wenn ich durch die Straßen laufe. Dennoch: Daniel Schreiber hat sich sein Zuhause in Berlin erarbeitet, indem er seine Wohnung zum ersten Mal richtig eingerichtet hat. Diesen Teil des Essays mag ich besonders. Auch ich habe immer noch nicht alle Umzugskartons ausgepackt und ja, das hemmt mich irgendwie. Daniel Schreiber entwirft in diesem Kapitel eine kleine Philosophie des Wohnens, wenn er beschreibt, dass unsere Wohnung „die tonangebende Inszenierungsform unseres privaten Alltags“ ist und er durch das bewusste Einrichten einen Halt und auch einen Ort der persönlichen Sicherheit gefunden hat.

Kaum ein Ort spiegelt so grundlegend unsere Beziehung zur Welt wider wie unsere Wohnung.

Warum mochte ich diesen Abschnitt so sehr? Weil er mir Anknüpfungspunkte und Parallelen zu meinem eigenen Leben aufzeigt. Das gilt übrigens für den gesamten Text, worin eine der großen Stärken von Zuhause liegt. Egal, wie persönlich und individuell Schreiber seine Geschichte erzählt, am Ende beschreibt er für mich auch immer das Gefühl einer ganzen Generation, die ständig auf dem Sprung zu sein scheint. Das tut er zudem so eindrucksvoll und stilsicher, dass auch ich, mit dem Buch in der Hand, nachdenklich im Gartenstuhl bei meinen Eltern sitze und mich zum ersten Mal so richtig frage, wo eigentlich mein Zuhause ist und was dieser Ort in Brandenburg für mich bedeutet. Ich habe noch keine eindeutige Antwort gefunden. Aber eines ist sicher: Daniel Schreiber trifft mit seinem Essay einen Nerv der Zeit, den es weiter zu erkunden gilt.

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Daniel Schreiber: ZuhauseDaniel Schreiber

Zuhause
Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen

Hanser Berlin

ISBN: 978-3-446-25474-9

Erschienen am 20.02.2017

Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

5 Kommentare

  1. Wortlichter

    Das Cover finde ich schon allein ganz wundervoll gelungen.
    Und beim Thema Heimat wird mir immer schwer ums Herz, da ich keine Heimat habe, mich nirgendwo daheim fühle. Umso länger ich an einem Ort bin, umso fremder fühle ich mich. Erleichterung bringt nur die Fremde.
    Meine Heimat habe ich mit 18 verlassen und ich konnte es damals gar nicht erwarten. Ich weiß noch wie ich damals das erste Mal am Fenster meiner Studenten-WG stand, eine Wohnung die ich nie zuvor gesehen habe…und aus dem Fenster sah… 7. Stock, über die Stadt, und dieses überschwängliche Gefühl, der Freiheit, ein Moment auf den ich 18 Jahre gewartet habe. Es war einer der schönsten Momente in meinem Leben und zum derzeitigen Punkt auch der Schönste. Und umso länger ich an einem Ort bin, umso erdrückender fühlt es sich wieder an.
    Ich weiß gar nicht ob ich mich nach einem Zuhause sehne, die Vorstellung an einem Ort zu bleiben, macht mir viel mehr Angst. Ein Gefühl der Enge.
    Denkst du das Buch ist trotzdem was für mich?

    PS. Aus lauter Fernweh habe ich mir jetzt erstmal Jack Kerouac -On the Road bestellt, 😀

    Lg, Anja

    • Juliane

      Oh ja, das Cover mag ich auch gern. Es ähnelt auch sehr dem seines ersten Buches. Sehr stilvoll.

      Also ich würde sagen, dass dieses Buch GERADE etwas für dich ist! Klingt so, als ob Daniel Schreiber und du ein paar Merkmale in Hinblick auf euer „Zuhause“-Gefühl“ teilt. Der Autor konnte es auch nicht erwarten, aus dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, wegzukommen. (By the way: Ich auch! Diesen Fenster-Moment im ersten eigenen WG-Zimmer kenne ich auch zu gut, obwohl sich da bei mir auch noch ein Gefühl von Wehmut miteingeschlichen hat…Veränderungen fallen mir oft nicht so leicht.) Und irgendwie hat Schreiber sich auch nur immer für kurze Zeit an bestimmten Orten zufrieden und sicher gefühlt. Also Parallelen zwischen dir und dem Autor sind da. Der Essay bleibt ja am Ende auch nur eine Annäherung an den „Zuhause“-Begriff und kann so umso mehr als Denkanstoß wirken…vielleicht auch, um darüber nachzudenken, warum du eventuell gar kein Zuhause brauchst für dein Wohlbefinden.

      Fernweh kenn ich auch zu gut und „On The Road“ wollte ich auch schon immer mal lesen. Kannst mir ja dann mal schreiben, ob es dein Fernweh stillen konnte. 🙂

      LG
      Juliane

  2. letteratura

    Vielen Dank für diese schöne Erinnerung an das wie ich finde wunderbare Buch und natürlich für die Verlinkung. Ich glaube auch, dass es eine der Stärken des Essays ist, dass man alles, was der Autor schreibt, auf sich selbst beziehen kann bzw. dass man eigentlich gar nicht anders kann, als sich immer wieder selbst zu hinterfragen. So wird es eben doch sehr persönlich.

    • Juliane

      Ja, da hast du vollkommen recht. Mir hat der Essay auch wirklich noch mal einen ganz anderen Blick auf den Ort gegeben, aus dem ich komme. Ein bisschen konnte ich mich mit Schreibers Hilfe auch „aussöhnen“ mit der mir in der Jugend so ungeliebten Provinz.
      Hast du denn seinen anderen Essay „Nüchtern“ auch schon gelesen?
      Liebe Grüße
      Juliane

      • letteratura

        Nein, leider nicht, aber der interessiert mich nun auch, muss ich mir jetzt mal merken. Viele Grüße!

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