Der Verlust eines geliebten Menschen kann uns bis in die Grundfesten zerreißen. In Taxi von Cemile Sahin (Korbinian) nimmt eine Mutter ihr Schicksal in die eigene Hand und kreiert sich einen neuen Sohn, der buchstäblich die Rolle neben ihr einnimmt.
An zahlreichen Stellen wurde zuletzt die Konkurrenz zwischen Büchern und Netflix – stellvertretend für den anhaltenden Serienhype – hervorgehoben. Nicht immer gleich in einem Atemzug mit dem Untergang des Abendlandes, aber es hatte hier und da sein Geschmäckle. Was klar ist: Es ist deutlich bequemer, eine Serie an- und durchzuschauen – »eine Folge noch …, ach eine geht noch …« –, als bei einem Buch durchzuhalten. Einfach weil man weniger dafür tun muss, wenn sich auch meiner Meinung nach der eigene Einsatz beim Lesen in Grenzen hält, aber das ist natürlich bei jedem*r anders.
Cemile Sahin hat sich für ihren Debütroman Taxi auch einiges bei Netflix & Co. abgeguckt. So gibt sie dem Roman die Struktur einer Serie. Gleich zwei Staffeln, die zweite wird allerdings vor dem eigentlichen Ende abgebrochen. Ist der Roman etwa ein Drehbuch? Ganz und gar nicht, denn es gibt noch einen Paratext um die Serie herum, der alles ins rechte Licht rückt.
Denn die Serie ist nicht struktureller Selbstzweck, sondern steht in der Tradition einer Metaerzählung. Das Drehbuch zur Serie hat Rosa Kaplan geschrieben, oder, wie sie in der Serie zumeist genannt werden wird: Mutter. Sie nimmt auch die Hauptrolle ein, zusammen mit ihrem Sohn Polat. Die Serie erzählt davon, wie Polat, der seit Langem im Krieg vermisst wird, plötzlich wiederkehrt. Die Wiederkehr wird langsam im Freundes- und Bekanntenkreis bekanntgemacht, dann auf die Verlobte Esra und deren Familie und Freunde ausgeweitet. Das Finale ist die Glückseligkeit einer großen Familie. Und aber auch vor allem jene der Mutter mit ihrem Sohn.
So weit, so gut. Es gibt nur ein Problem: Polat ist tatsächlich weg, in den Wirren des Krieges verschollen. Kein Zeichen seines Todes gibt es, aber auch keines, dass er noch am Leben sein könnte. Da Rosa Kaplan dies nicht akzeptieren kann, rekrutiert sie kurzerhand einen Ersatz für die Rolle des Sohnes. Der namenlose Fremde lässt sich – auch aus einer ziemlich massiven Leere der eigenen Existenz als Taxifahrer heraus – auf das waghalsige bis wahnsinnige Schauspiel ein. Und es beginnt mit einer Szene bei der Nachbarin, Frau Batic.
Mutter und ich buhlen um dieselbe Aufmerksamkeit. Das ist immer so in den amerikanischen Filmen oder Sitcoms. Und wir sind die neue, beste Serie. Amazon und Netflix Nummer 1 Click-Hit, die Gewinner des New York Times Critic Awards. Die zwei Hauptcharaktere kämpfen um die Gunst der Zuschauer. Die zwei Hauptcharaktere vertrauen ihrer Darstellung. Frau Batic weiß es nicht, aber mit ihrer Gunst beginnt unsere Geschichte. Was geht hier vor?, sagt sie zu mir, meint aber Mutter. Wer ist das?, sagt sie dann und zeigt auf mich.
Taxi erzählt von dem verzweifelten Kampf der Mutter Rosa Kaplan um einen Sohn, wobei ihr der Sohn selbst in ihrer Verzweiflung langsam egal geworden ist. Sie will im Mittelpunkt stehen, ein normales Leben führen, beachtet und respektiert werden. Aber eben auch immer ein wenig mehr als das. Cemile Sahin seziert in ihrer Figur sehr schön, wie der Wunsch danach, gleichzeitig normal und besonders zu sein, gerade Menschen in sehr konservativen Milieus von innen zerreißen kann. Noch dazu in vom Krieg gezeichneten Gesellschaften, in denen Gewalterfahrungen an der Tagesordnung waren und die Psyche vieler Menschen tief gezeichnet ist.
Ganz anders der schauspielende Polat. Denn dieser ist von innen praktisch hohl und füllt diese Leere immer mehr mit seiner Rolle. Das ist fatalistisch als fanatisch, und so treffen in den beiden Protagonisten zwei Extreme wie Feuer und Wasser aufeinander. Was beide jedoch eint, ist zumindest im weiteren Verlauf immer mehr der Wunsch, jemand zu sein. Jemand, den die Menschen erkennen. Nicht ein beliebiges Opfer des Krieges, kein traumatisierter Ex-Soldat, keine Mutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hat.
Ohne viel vorwegzunehmen: Die beiden LaienschauspielerInnen kommen natürlich nicht ohne Komplikationen durch ihr Skript, die Realität ist widerständiger als ihre Wünsche. So entspinnt sich eine beinahe klassische Verwechslungskomödie, die mal mehr, mal weniger trägt, ein bisschen repetitiv ist es dann schon. Der doppelte Boden hält sie aber beständig über Wasser. Die Sprache ist sicher und angemessen, die Dialoge wirken lebendig, wenn auch die Kennzeichnung von indirekter Rede als direkte ziemlich verwirrend ist. Aber das ist eine Formalie.
Taxi ist ein gelungenes und vielversprechendes Debüt, das gezeichnete Charaktere und ihren Wunsch nach Besonderheit bis zum Wahnsinn in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig auch ein perfekter erster Roman im Korbinian Verlag. Da kann man nicht groß meckern.
Cemile Sahin
Taxi
Korbinian Verlag
220 Seiten | 20 Euro
Erschienen im Oktober 2019
[…] Diese Rezension erschien zuerst auf Poesierausch. […]