Ein verschwundener Hund führt zum absoluten Ausnahmezustand in einem kleinen Dorf. Verena Güntner nimmt in ihrem Debüt Power (Dumont) die Dynamik zwischen den Einwohner:innen phantasievoll in den Fokus. Vollkommen zurecht nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Power ist weg. Der kleine Hund, der der alten Hitschke Gesellschaft leistete, seit ihr Mann Karl weg ist. Auch weg. Es ist eine Mischung aus Abscheu und Neugierde, die der alten Frau im Dorf entgegenschlägt. Kein Wunder, dass sie sich nicht an die Polizei wendet – die eh viel zu weit weg wäre, in der fernen Kreisstadt. Und auch nicht an andere Erwachsene, sondern an Kerze.
Kerze ist ein zehnjähriges Kind, das irgendwie anders als die anderen ist. Nicht nur, dass sie nachts regelmäßig von Geistern besucht wird. Mit denen hat sie sich arrangiert. Sie ist auch sonst besonders. Eine Außenseiterin, aber auch mit außergewöhnlicher Entscheidungsfreude und Neugier ausgestattet. Sie übernimmt mit Wonne kleine Detektivaufträge. So nun auch die Suche nach dem verschwundenen Power. Als die herkömmliche Herangehensweise nichts Zählbares bringt, gibt es nur eine Konsequenz: Kerze zieht mit den Kindern des Dorfes in den Wald, um zu Tieren zu werden. So wollen sie Power näher kommen und ihn schlussendlich finden.
Mamas nackte Beine baumeln aus der Hängematte. Sie schläft seit zwei Stunden, ein angefangenes Buch auf der Brust und das Schattennetz der Birke auf ihrem Gesicht. Kerze, die ein Stück abseits auf einem ausgeleierten Plastikgartenstuhl sitzt, scharrt mit den Füßen im Sand; hier neben der alten Tanne ist es zu dunkel für Rasen. Sie grübelt schwer, sieht immer wieder zu Mama, deren Herumlungern sie reizt, deren sorgloser Schlaf sie immer wütender macht. Sie hat in den letzen fünf Tagen jeden Winkel des Waldes bis zur Scherer Linie allein abgesucht, weiter, das kann sie sich nicht vorstellen, wird Power nicht gelaufen sein, weiter entfernt sich ein Hund nicht von seinem Zuhause. Oder doch?
Als die Kinder in den Wald ziehen und sich immer weniger bei ihren Eltern blicken lassen, verroht nach ihnen schnappen und nur noch bellend auf Fragen antworten, schlägt die Stimmung im Dorf um. Die Hitschke ist als Schuldige schnell ausgemacht, und so wird diese drangsaliert, ihre Fenster eingeschlagen, der Garten vermüllt. Sie lebt in absoluter Isolation, nur die täglichen Märsche zum Wald schafft sie noch, um den Kindern Essen zu bringen. Doch ihre Vorräte schwinden, und in den Supermarkt traut sie sich schon lange nicht mehr.
Verena Güntner zeichnet in Power das überaus feingliedrige und detaillierte Bild eines verschlafenen Dorfs, das über die Dauer der Sommerferien in den Ausnahmezustand rutscht. Mit Präzision bewegt sich die Stimmung immer weiter auf den Kipppunkt zu, schlägt Misstrauen in Ablehnung über, Distanz in Hass. Die Hitschke wird zum Sündenbock für alles, Dialog unmöglich, die Gerüchteküche kocht über. Auch Kerzes Mutter muss mit immer größeren Anfeindungen leben. Die Parallelen zum aktuellen Wutbürgertum sind herrlich offensichtlich, und doch nie aufdringlich. Unterschwelligkeit ist die große Stärke von Power.
Denn der Roman widersteht auch der Versuchung, den Umzug der Kinder in den Wald als Rückbesinnung auf einen wie auch immer gelagerten Naturzustand à la Rousseau oder Thoreau zu romantisieren. So wechselt die Perspektive mit dem Kipppunkt der Stimmung im Dorf von Kerze weg zur Hitschke, die Kinder geraten aus dem Fokus, dafür wird das Dorf scharfgestellt. Auch wenn ich innerlich schon ein klein wenig Vorfreude auf das kommende Abenteuer der Kinder im Wald aufgebaut hatte, ist diese Entscheidung Gold wert.
Sie macht Power zu einem Roman, der eine etwas naiv gezeichnete, irgendwie komplett von unserer schnelllebigen Zeit abgekapselte Dorfwelt zu einer starken Parabel werden lässt. Die eine zurückhaltende auktoriale Erzählweise, die sich leicht am Märchen bedient, nutzt, um aus der Distanz ganz nah am Heute zu erzählen. Ein ebenso starker wie mutiger Roman.
Verena Güntner
Power
Dumont
254 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 18.2.2020