Am 18. Juni findet die dritte Ausgabe von »Let’s talk about class« über Wege aus dem Klassenkrampf im Berliner ACUD statt. Dieses Mal mit ein wenig Publikum und natürlich im Stream. Zu Gast werden Stefanie de Velasco, Christian Baron und Alina Kolar sein. Wir haben ihnen vorab fünf Fragen zum Thema »Klasse« gestellt.
Stefanie de Velasco
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Ich habe mir ehrlich gesagt um den Begriff noch nicht viele Gedanken gemacht. Interessant finde ich den Bezug von Migration und Klasse, z.B. in meinem Fall. Meine Mutter stammt aus einem spanischen Intellektuellenhaushalt, sie selbst ist Lehrerin, durfte aber in Deutschland erst kurz vor ihrer Rente in ihrem Beruf arbeiten, weil die Diplome nicht anerkannt wurden, und nach der Scheidung hat sie in der Kleiderabteilung eines Supermarktes gearbeitet. Diesen Gap, dieses Verschieben von Klasse durch die Migration und das Geschlecht, dieses Downgrading auf Basis von Rassistischer und sexistischer Diskriminierung fand ich immer spannend. Und traurig.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Wie bereits oben erwähnt, bin ich in einem seltsamen sozialen Gemisch groß geworden, und das war auch im ständigen Wechsel, weil sich nach der Scheidung meiner Eltern die Geldfrage nochmal anders für meine Mutter stellte, die plötzlich Geld verdienen musste. Vorher waren wir irgendwie »deutscher und bürgerlicher«, als mein deutscher Vater noch bei uns lebte. Danach nicht mehr. Ich bin in einem migrantischen Haushalt mit vielen Büchern groß geworden und bei den Zeugen Jehovas. Dieser Cocktail hat mich enorm geprägt, weil er bedeutete, nie irgendwo dazuzugehören. Auch bei den ZJ waren wir die Eingewanderten, in Spanien die »Deutschen«, im deutschen Alltag die »Spanier und Sektenanhänger«. Sonderbar.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Nein, ich schätze es inzwischen sehr, so seltsam groß geworden zu sein. Wenn ich auch manchmal die Selbstverständlichkeit, mit der deutsche Akademikerkinder oder einfach Freundinnen von mir, die eh einmal erben werden, beneide, um ihre Zuversicht auf das Alter bezogen, von der sie selbst glauben, dass sie aus einer psychologischen Entspanntheit kommt und nicht aus der sozialen Tatsache heraus, dass sie abgesichert sind durch Immobilien.
Warum setzt du dich mit dem Thema auseinander?
Ich setze ich mit dem Thema auseinander, weil mich junge Protagonistinnen interessieren, die aus der sogenannten Unterschicht stammen. Ich weiß nicht, warum das so ist, denn ich bin nicht unbedingt so groß geworden, zumindest nicht nur. Ich glaube , dass es die interessanteren Geschichten sind, und dass es die Geschichten sind, in der sich am meisten „Wahrheit“ bzw. Gegenwärtigkeit findet.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau. Ich habe da noch nie in Klassen gedacht.
Stefanie de Velasco erzählt in ihrem zweiten Roman Kein Teil der Welt (2019) von ihrer Kindheit bei den Zeugen Jehovas und dem Ausstieg aus der Sekte. Letzten Winter streikte sie wochenlang vor der Akademie der Künste in Berlin für eine gerechtere Klimapolitik.
Christian Baron
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
In den neunziger und nuller Jahren, in denen mein Buch überwiegend spielt, da galt noch die Devise: Wir können uns eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus. Das scheint sich allmählich zu ändern, weil die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer rasanter zunehmen. Der Kapitalismus zeigt wieder sein wahres Gesicht, die Ungerechtigkeit lässt sich nicht mehr verbergen oder schönreden. Wir leben in einem System, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und Konkurrenz ausgerichtet ist, das wenige Gewinner und massenhaft Verlierer produziert. Um das zu verstehen, ist der Klassenbegriff wichtig, weil er impliziert, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen und nicht nur Opfer scheinbar naturgegebener Verhältnisse sind. Was es heißt, in der Klassengesellschaft »unten« zu sein, das habe ich am eigenen Leib erfahren. Darum ist »Klasse« für mich nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern reale Lebenserfahrung. Zieht man die Trennung von Produktionsmitteln und die abhängige Lohnarbeit als Kriterien heran, dann war die Arbeiterklasse in der Geschichte der Bundesrepublik nie größer als heute. Daraus leitet sich noch kein entsprechendes Handeln ab, es gibt also kein »subjektives Klassenbewusstsein«. Das soll und muss sich ändern, sonst kann es keine menschliche Alternative zum Bestehenden geben.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Weil in meiner Kindheit bildungsbürgerliche Werte kaum eine Rolle gespielt haben, wollte ich immer so sein wie meine Familie, und deshalb hielt ich mich lange fern von Hochkultur oder Akademikern. Heute, nach einem langen »Bildungsaufstieg«, habe ich mich den bürgerlichen Konventionen angepasst, obwohl ich dagegen anzukämpfen glaubte. Irgendwie bin ich durch das geschlossene System der Klassengesellschaft kulturell nach oben gerutscht und kann meinen Lebensunterhalt sogar als Journalist und Autor bestreiten. Mehr als zwei Drittel aller Journalisten in Deutschland haben oder hatten Eltern, die als Beamte oder Angestellte mit Hochschulabschluss im gehobenen bis sehr gehobenen Dienst tätig sind oder waren. Es gibt kaum einen Beruf, dessen Zugang einem Menschen mit nicht-akademischer Herkunft so versperrt ist. In Redaktionssitzungen beschleicht mich oft das Gefühl, dass den anderen der Raum mehr gehört als mir. Das lässt mich wirklich nur äußerst selten mal ein Kollege oder eine Kollegin spüren, es steckt vielmehr in mir drin. Wenn ich sehe, wie selbstbewusst und meinungsstark die anderen über Politik oder Kultur reden, dann denke ich fast immer, da niemals mithalten zu können und mir sofort einen anderen Job suchen zu müssen, bevor noch jemand merkt, wie blöd ich in Wahrheit bin. Dieses Fremdheitsgefühl werde ich nie verlieren. Das Wissen darum, woher ich komme, hat aber auch einen großen Vorteil: Bis heute habe ich den Kontakt zu meinem Herkunftsmilieu nicht verloren.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Mir sind im Laufe meines Berufslebens erstaunlich viele Kolleginnen und Kollegen begegnet, die noch immer darunter leiden, in einer – wie sie es nennen – »Kleinbürgerhölle« aufgewachsen zu sein: Reihenhaus, Garten, Vorstadt, zwei Autos, Doppelverdiener, Heile-Welt-Fassade, wenig Liebe, große Erwartungen, erdrückende Enge. Da dachte ich oft: Diese Leute mögen irgendwann mindestens ein Haus und ein kleines Vermögen erben, sie müssen sich im Gegensatz zu mir also nicht vor Armut fürchten. Dafür bin ich aber mit meiner Familie im Reinen, kann mit meiner Tante im Eingeweide einer Kneipe im pfälzischen Dialekt bis nachts dummes Zeug schwätzen. Oft schöpfe ich aus den gemeinsamen Erinnerungen an die materiell entbehrungsreiche Kindheit sogar die Kraft, Lappalien im Alltag als solche zu erkennen, anstatt sich von ihnen die Lust am Leben nehmen zu lassen.
Warum setzt du dich mit dem Thema auseinander?
Weil in dieser Gesellschaft nicht nur eine skandalöse soziale Ungleichheit herrscht, sondern darüber auch erschreckend wenig Wissen verbreitet ist. Wir leben in einer Zeit, in der die sozialen Milieus immer weiter auseinanderdriften. Es gibt immer mehr sozial homogene Stadtteile, in denen entweder nur Niedriglöhner ohne Perspektive leben oder sogenannte Hochqualifizierte mit fettem Gehaltsscheck. Das Schulsystem tut sein Übriges, sodass schon Kinder nur noch mit Menschen zu tun haben, die ihren eigenen Erfahrungshorizont widerspiegeln. Eine demokratische Gesellschaft sollte aber mehr eine Gemeinschaft sein als eine Ansammlung von Individuen. Es braucht Solidarität, aber die entsteht nur, wenn man sich in andere hineinversetzen kann. Derzeit scheint mir die Literatur, so wie generell die Kunst, das beste Mittel zu sein, um Empathie zu ermöglichen.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Über den Kapitalismus und die Klassengesellschaft habe ich durch das dramatische Werk von Bertolt Brecht mehr gelernt als durch die Lektüre jedes Sachbuchs. Im Bereich der Prosa haben mich zuletzt besonders die Bücher von Annie Ernaux, Anke Stelling, James Baldwin, Maya Angelou und Clemens Meyer beeindruckt, aber auch immer wieder einzelne Titel wie Stoner von John Williams, Saisonarbeit von Heike Geißler, Möbelhaus von Robert Kisch oder Das Viertel der Clowns von Lim Chul-woo. Musikalisch sind natürlich die Lieder der Arbeiterklasse von Ernst Busch zu empfehlen, aber auch Kompilationen wie Songs of Gastarbeiter von Imran Ayata und Bülent Kullukcu. Wer es pathetischer mag, findet bei den Bläck Föös und bei Bruce Springsteen wirklich schöne Texte über das Leben in der Klassengesellschaft. Bei den Filmen ist Ken Loach mein Klassensprecher, aber auch die Dardenne-Brüder haben große Filme über Oben und Unten gemacht. Aus Hollywood fallen mir vor allem sehr gute Wirtschaftsfilme ein, also Titel wie The Big Short oder The Wolf of Wall Street. Und dann gibt es diesen einen Film, der mir im vergangenen Jahr wirklich den Stecker gezogen hat: Parasite von Bong Joon-ho.
Christian Baron ist Sohn eines Hilfsarbeiters und einer Hausfrau. Erst Volontariat, dann Feuilleton-Redakteur bei neues deutschland, seit 2018 Politik-Redakteur bei der Freitag. Autor von Proleten, Pöbel, Parasiten (2016) und Ein Mann seiner Klasse (2020).
Alina Kolar / Arts of the Working Class
Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Verteilung von Privilegien in allen Bereichen der Gesellschaft (ihrer Ökonomie, Ökologie, Kultur), die juristisch, medial und im Privaten so zementiert ist, dass kaum eine Veränderung denkbar ist.
Alles beginnt mit einer Definition: Anstatt zu klassifizieren möchte ich den Begriff Klasse(n) redefinieren, dadurch aufbrechen und abschaffen.
Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Nicht nur in der Art, wie ich mich durch die Welt bewege (wie ich sitze, esse, den Tisch decke, Ästhetik wahrnehme etc.), sondern auch die Möglichkeit zu sehen, dass man nicht in einer Situation verharren muss, sondern wir für eine gerechte Welt einstehen können.
Class is an ‚identity‘ category unlike any other ‚identity‘ category. It is a very specific category because it strongly affects all the other categories: race, gender, sexuality, and so on. In other words, the lived manifestations/realities of these other categories all in some way follow from class (or more generally, their formation is highly dependent on economic/material circumstances of a person/social group). Via Marx, class is not a stable category, but a form of antagonistic relation.
Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Nein, das Verhältnis von Privileg und Ausgrenzung bot genug Freiraum, um die unfreien Räume zu reflektieren.
Warum setzt du dich mit dem Thema auseinander?
Weil ich die Diskrepanz nicht akzeptiere. Es gesellschaftspolitisch als wichtige Aufgabe sehe. Because class is underrepresented in contemporary cultural debates & often reduced to just another identitarian category. Because we need a society that gives people the same opportunities and we need to lift each other up instead of climbing over each other to get ahead all the time.
Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Einen Spaziergang an einem Ort, der deiner Klasse nicht entspricht, und zu lauschen, wie es sich anfühlt in allen Ecken deines Kopfes.
Mit Würde eigene Taten, Bewegungen, Worte zu durchdenken, sie wichtig zu nehmen, mit ihnen zu spielen, sie zu hinterfragen, in Relation zu setzen zu der Humanität die in uns steckt und dem Austausch mit Anderen und der Welt.
> Juliet Jacques’ Political Songs Playlist
> Any film by Dardenne Brothers and Mike Leigh. Books by Angela Davis and Audre Lorde. Classic house music does not often explicitly address class, but it was born in the very heart of queer POC working class communities, so basically house music today owes everything to the working class.
> I got into feminism via queer punk music and it really shaped my political consciousness so I’ll just recommend some fav. albums: The Cost of Living by Downtown Boys, Limp Wrist self-titled album, Too Young to Be in Love by Hunx & is Punx, and anything from Bikini Kill of course.
Alina Kolar ist Herausgeberin der Kunst- und Straßenzeitung Arts of the Working Class, arbeitet daran, Klassenstrukturen in der Kunst und Kultur in der Gegenwart zu verorten, aufzuzeigen und aufzulösen.
Let’s talk about class #3
Am 18. Juni sind Stefanie de Velasco, Christian Baron und Alina Kolar zu Gast im ACUD. Sie sprechen mit Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer über Klasse, Klima und Kunst, über Gewalterfahrungen und Sektenleben, über Ausbrüche und Aufbrüche.
Moderation: Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer
Donnerstag, 18. Juni, 20 Uhr, ACUD Studio (bei gutem Wetter im Hof), coronabedingt MIT REDUZIERTEM PUBLIKUM (Anmeldung per Mail an j.buechter@acudmachtneu.de), aber so oder so hier IM STREAM: