Marion Messina: Fehlstart

Frankreich von unten: Der Debütroman Fehlstart von Marion Messina (Hanser) erzählt so atem-, schonungs- und kompromisslos wie selten vom vergeblichen Kampf der französischen Unterschicht um sozialen Aufstieg.

Messina: Fehlstart

Aurélie kommt nicht aus den Slums von Grenoble, das wäre zu viel gesagt. Sie ist ein waschechtes Kind der Arbeiterklasse, kommt aus bildungsfernen, aber doch noch gutbürgerlichen Verhältnissen. Diese Welt ist aber nicht ihre, sie will mehr von ihrem Leben als eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau und ein Arbeitsleben mit eher anspruchslosen Tätigkeiten. Sie will höher hinaus, will studieren, aus dem piefigen Grenoble herauskommen und auch ein Stück der Welt sehen.

So wenig verwerflich der Traum, so groß sind doch die Hindernisse. Es ist gar nicht mal so, dass die Schule sie nicht auf das Studium vorbereitet hätte – sie stirbt aufgrund der heillos veralteten und anspruchslosen didaktischen Konzepte fast vor Langeweile in ihren Veranstaltungen, der Stoff fiele ihr vielleicht leicht, wenn sie denn folgen könnte. Schlimmer aber fast wiegt, dass ihr spießiges Elternhaus sie nicht darauf vorbereitet hat, wie sie unter den anderen Studierenden Freund*innen finden soll. So schaut sie lieber zurück als nach vorn, bleibt perspektivlos in ihrem Traum von der höheren Bildung.

Bis sie Alejandro kennenlernt. Er kommt aus der Oberschicht Kolumbiens, in Frankreich ist er allerdings ganz unten angekommen. Auch ihn langweilt das Studium, die hohen Lebenshaltungskosten in Frankreich fressen seine Mittel jedoch auf, bevor er auch nur einmal eingekauft hat. Die beiden finden durch Zufall zueinander, für Aurélie ist es die erste sexuell erfüllende Beziehung. Sie ist verrückt nach ihm, er findet sie nett und ist nett zu ihr. Mehr aber eher auch nicht. Als er sich aus der Provinz verabschiedet, bricht für sie eine kleine Welt zusammen. Sie nimmt allen Mut zusammen und kehrt der Provinz ebenfalls den Rücken. Auf in die Stadt der Liebe, Paris soll es richten.

Wie ernährte sich Paris? Was war das für ein Leben ohne Wurzeln, wie lebte die niedergeschlagene Bevölkerung, die nur durch das Prestige vergangener Jahrhunderte in den Arenen gehalten wurde? Der ganze Stress, das Gewirr der Metrolinien, das endlose Netz der Agglomeration, die Banlieue, die sich bis an die Nachbarregionen erstreckte, die zehn Millionen Einwohner reichten nicht mehr aus, um dieser Ballung großer Ballungsgebiete eine Seele einzuhauchen. Die Stadt war eine Filiale großer Konzerne von Staatenlosen, man lebte dort nicht anders als in jeder beliebigen Giga-Stadt der Welt.

Gleich Mehreres ist hier unverkennbar: Paris wird Aurélies Probleme nicht lösen. Es wird schlimmer, alles wird schlimmer. Das Zentrum liegt hoch über der Peripherie, ohne mit dieser noch wirklich in Kontakt zu stehen. Diese Kontaktlosigkeit ist in gewisser Weise das Leitmotiv in Fehlstart: Es ist unmöglich, von unten, aus der Peripherie, ins Zentrum vorzudringen. Zumindest, wenn man nicht zumindest der Oberschicht angehört. Für alle anderen wird der Versuch zum Verhängnis. Aurélie wird zu einer heutigen Sisipha, sie rennt an gegen ein System aus gar nicht mal so gläsernen Wänden, die sich als Panzerglas entpuppen.

In trist-dunkeln Farben erzählt Marion Messina die Geschichte von Aurélie. Lichtblicke bieten sich keine für die junge Frau, selbst die Glücksfälle entpuppen sich immer wieder als falsche Hoffnungen, die sie nur noch tiefer fallen lassen. Der Kapitalismus hat sich in der Hauptstadt zu einem gigantischen Hamsterrad ausgewachsen, in dem die potenziellen Aufsteiger*innen nur eine kleine Weile mitlaufen können, bis sie krachend wieder herausfallen, sich gegenseitig herausstoßen in der blinden Hoffnung, so länger drin zu bleiben, ein Stück weiterzukommen. Ihre schiere Masse hält das Rad, und damit das System aber weiter am Laufen, und so ist kein Ende in Sicht.

Fehlstart ist ein atemloser Roman, der sich nicht um Nettigkeit oder korrekte Formen bemüht. Das wäre dem Thema wohl auch unangemessen, und doch musste ich immer wieder schlucken, wenn knallhart Stereotype gegeneinander ausgespielt werden, die Ellbogen jede Form der Kommunikation übernehmen und die Figuren innerlich immer weiter verhärten, verkrusten, spröde werden auf der Suche nach dem Glück. Die Gewalt ist allgegenwärtig, bis hin zur Bösartigkeit.

Trostlos ist kein Ausdruck für Fehlstart, er zeigt unverhohlen die dunkelsten Seiten der französischen Klassengesellschaft und des auf die Spitze getriebenen Zentralismus. Doch er weist auch über die Grenzen Frankreichs hinaus und beleuchtet eine Seite des Kapitalismus, die die Globalisierung immer weiter anheizt, und die von selbst nicht kleiner werden wird. Ein schmerzhaftes Plädoyer für eine intensive Auseinandersetzung mit Klassizismus und Kapitalismus, um Chancengleichheit herzustellen. Ein Wort, das im Licht des Romans noch mehr wie eine Utopie scheint, als es eh schon ist.

Marion Messina

Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Hanser

168 Seiten | 18 Euro

Erschienen am 27.1.2020

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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