Klimakatastrophe trifft depressive Aussteigergemeinde: In Malé (S. Fischer) erkundet Roman Ehrlich die psychischen Abgründe des sterbenden Planeten in einem postmodern gefächerten Kammerspiel auf einer verschwindenden Insel.
Vom Cover tropft es. Im Inneren von Malé steht allen Menschen das Wasser bis zum Hals. Malé ist die ehemalige Hauptstadtinsel der Malediven. Der Staat ist lange untergegangen, in einzelne Kleinststaaten versprengt. Malé ist der vielleicht schillerndste unter ihnen, denn es gilt als Aussteigerparadies. Doch das Paradiesische, die Riffe, zu denen Urlauber einst tauchten, ist lange vorbei. Das Wasser ist gestiegen, und gestiegen, und gestiegen. Bis zum Hals steht es nun den Bewohner*innen der Insel, egal ob hier geboren oder aus welchen Gründen auch immer zugereist. Der Klimawandel hat sich seinen Teil genommen, alle Bemühungen der Menschheit konnten den steten Anstieg des Meeresspiegels nicht verhindern.
Zwei schillernde Figuren Malés waren die deutsche Schauspielerin Mona Bauch und der US-amerikanische Lyriker Judy Frank. Beide sind zum Zeitpunkt, in dem der Roman einsetzt, verschwunden. Zwei andere Personen kommen an, um nach ihnen zu suchen: Frances Ford, eine Literaturwissenschaftlerin aus den USA, sucht nach Frank, Elmar Bauch sucht nach seiner Tochter, der verschwundenen Schauspielerin. Sie tauchen ein in eine verschrobene Welt, die für die beiden komplett unwirklich scheint und sich ihnen kaum öffnen will. Auch die vielen kauzigen Figuren, denen sie begegnen, scheinen nur noch mehr Dunkelheit in ihre Suche zu bringen.
Gebeugt über den verkalkten Spültisch der Kaffeeküche des ehemaligen Großraumbüros eines maledivischen Reisedienstleisters, in dem ihr eines der verschiedenartig benutzt oder verlassen wirkenden, von Cubicle-Stellwänden abgetrennten, fensternahen Matratzenlager zugewiesen wurde und wo ihr bislang, seit ihrer Ankunft auf der Insel, noch keine andere dort untergebrachte Person begegnet ist, steht Frances Ford und liest, auf ihrem Endgerät, das durch ein sehr kurzes Ladekabel mit der einzig verlässlichen Steckdose auf der gesamten Etage verbunden ist, alte E-Mails der verstorbenen Schauspielerin Mona Bauch, die ihr von deren verzweifeltem Vater nach dem Treffen im Royal Ramaan Residence Hotel weitergeleitet wurden.
Roman Ehrlich macht es uns mal wieder nicht leicht. Schon in Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens präsentierte er einen sperrigen Plot voller nicht wirklich sympathischer Personen, denen er auf einer langen Wanderung folgt, in sperrigen Sätzen. Malé präsentiert sich ähnlich, und doch sehr anders. Wieder schillert das Figurenensemble in allen nur erdenklichen Dreckschattierungen, wieder sind sympathische Figuren Mangelware, Elmar Bauch und Frances Ford vielleicht ausgenommen.
Doch lebte das Grauen noch von seinem schrägen Survival-B-Movie-Plot und der Dynamik zwischen den Figuren, kann man von einem wirklichen Handlungsstrang in Malé nicht mehr sprechen. Auch eine Dynamik gibt es nicht wirklich, alles wirkt statisch, auf den Untergang wartend. Diese apokalyptische Stimmung zieht sich wie ein Leitfaden durch den Roman. Jeder mit Details überfrachtete, beinah orientierungslos mäandernde Satz stellt sich zwischen die Leser*innen und das Geschehen auf der Insel, jeder neue Absatz setzt irgendwo anders neu an. Die Ruhe vor dem Sturm ist das kranke Momentum in Malé. Alles wirkt überladen, vollgestopft, aber vergeblich. Es gibt massenhaft Personen, Miniplots, Motive, Symbole, Andeutungen und Ahnungen. Zwischen den Zeilen schwirrt es schön postmodern, ohne je wirklich irgendwo hinzugehen.
Die Verknüpfung des unverbindlichen Schwirrens mit der vergeblichen Suche der beiden Hauptfiguren und dem allgemeinen Warten auf den Untergang schafft eine ziemlich einzig- wie eigenartige Stimmung, die Malé auszeichnet. Der menschengemachte Klimawandel liegt wie ein Fluch über der Welt des Romans, die mit jeder gelesenen Seite weiter verschwindet, so wie auch die Hoffnungen der Figuren.
Bisweilen ist das alles etwas ermüdend, man sehnt sich wieder zu den beiden Hauptfiguren, wenn sich mehrere Episoden immer weiter von ihnen wegbewegen. Aber diese konsequente Eigenwilligkeit, die Sperrigkeit und das Ablehnen jedes Gefallenwollens, das die beiden Romane von Roman Ehrlich auszeichnet, sind einfach zu charmant, um sie nicht zu mögen. So ist auch Malé für mich ein wirklich guter Roman, wenn ich auch das Grauen lieber mochte. Trotzdem: ein würdiger Nachfolger.
Roman Ehrlich
Malé
S. Fischer
288 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 9.9.2020