»Prekariat« ist ein Wort, das in allen möglichen Zusammenhängen auftaucht. Hilary Leichter schreibt mit Die Hauptsache die Hymne der Prekären, einen Abgesang auf die neoliberale Arbeitswelt in beeindruckender Bildsprache.
Nicht erst seit Corona dürften viele Menschen das Gefühl haben, dass Arbeit das ganze Leben ist. Die Pandemie stellt dieses Gefühl selbst für solche in den Mittelpunkt, die es vorher noch nicht so krass gespürt hatten. Gemeint ist dabei natürlich Lohnarbeit, also diejenige, die verrichtet bzw. eigentlich vom Menschen verkauft werden muss, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Von Care-Arbeit und politischer Betätigung wollen wir gar nicht sprechen.
Warum eigentlich? Weil sie im neoliberalen Kapitalismus, in dem wir leben, nicht vorgesehen sind. Immer noch richten die meisten Unternehmen das Hauptaugenmerk bei ihrer Kapazitätenplanung auf zwei Prämissen: Entweder so viele Arbeitsstunden wie möglich aus der einzelnen Person herauszuquetschen oder aber Stellen in kleine, prekäre Fitzel zu zerstückeln, die dann auch noch staatlich gefördert werden. Es gibt natürlich hier und da andere Beispiele, der Mainstream funktioniert aber spätestens seit Einführung von Hartz IV genau so.
Um prekäre Arbeitsverhältnisse dreht sich auch Die Hauptsache von Hilary Leichter. Als US-Amerikanerin hat sie dabei einen noch krasseren Arbeitsmarkt vor Augen, als wir ihn in Deutschland gewohnt sind. Kaum Kündigungsfristen, kaum soziale Sicherungsnetze, kaum Regulierung – die USA sind das Paradebeispiel neoliberaler Arbeitsverhältnisse. Im Mittelpunkt der Hauptsache steht dabei aber ein Vorgang, der auch hierzulande immer mehr zum Fetisch wird: die Entfristung.
Auch ich bin noch nie unbefristet in ein Arbeitsverhältnis eingetreten – womit ich keine Probezeit meine. Unsicherheit bzw. Verunsicherung der Arbeitnehmer*innen wird dabei schnell zum Kernmoment der Heranziehung loyaler, da immer auf der Abschussliste stehenden Arbeitskräfte. Am krassesten tritt die bei Leiharbeit zutage, die nicht ganz zu Unrecht manchmal als neue Form moderner Sklaverei gehandelt wird.
Die Hauptsache entwickelt aus dieser perversen Grundlage eine beißende Satire, die mich emotional auf Anhieb gepackt hat. Schon auf wenigen Seiten baut der Roman eine Welt auf, in der Arbeit alles ist und die ungeschriebenen Gesetze der Firma das Leben strukturieren. Einen Namen braucht die Protagonistin des Romans auch nicht, denn sie muss im Wochentakt neue Stellen bekleiden. Um die Festangestellten nicht zu verwirren, übernimmt sie stets neben deren Aufgaben auch deren Namen, deren Charakter, deren Beziehungen. Vielleicht kommt die Person ja nicht wieder und sie kann bleiben?
Die Schuhe funkelten wie die Skyline, und trotzdem waren die Füße meiner Mutter ramponiert. Die vielen fremden Schuhe, in denen sie nicht stecken wollte, aber musste, wechselten ständig die Größe. Man muss sich mal vorstellen, was das mit den Füßen macht, wenn der Schuh ständig drückt!
In immer neuen Bildern stülpt Die Hauptsache die Arbeitswelt über alles, was unsere Welt strukturiert, und kreiert damit die neoliberale Apokalypse: Arbeitnehmer*innen, die leere Hüllen sind, immer bereit, sich mit dem neuen Job und dessen Anforderungen füllen zu lassen. Immer bereit, zu funktionieren. Frei von eigenen Antrieben, Gedanken, Bedürfnissen. und auch frei von jeglichen Ansprüchen an die Tätigkeiten, die hier zu reinen Persiflagen verkommen: So mimen Menschen Seepocken, fahren auf Piratenschiffen ohne Sinn, rauben Banken im Auftrag der Bank aus – wobei sie durchaus auch mal vertreten werden müssen.
Die kurzen, pointierten Sätze transportieren diese existenzielle Enge unglaublich gut. Ein großes Kompliment daher auch an die Übersetzung von Gregor Ruge, die die unzähligen Redewendungen, die hier umgemünzt werden, immer treffsicher aufnimmt. Wie das Gewohnte hier immer weiter verschoben wird, ist einfach eine große sprachliche Leistung.
So gut das Konzept, so passend die Sprache, so schwach leider der rote Faden, der sich durch das Buch ziehen sollte. Hier wirkt vieles unmotiviert aneinandergereiht, einfach weil noch mehr Aspekte der Satire hervorgehoben werden müssen. Oft scheinen mir auch gar keine neuen Aspekte gezeigt oder andere vertieft zu werden, sondern lediglich mehr Text produziert werden zu müssen, um das Buch ausreichend dick zu machen. Vieles hat einfach keinen Sinn bzw. Mehrwert – auch wenn das jetzt wie eine ziemlich rationalisierende Begründung klingt. Aber etwa ab der Mitte hat Die Hauptsache sein zu Anfang unglaubliches emotionales Potenzial für mich verpulvert, danach wurde es etwas flau. Sehr schade, denn das Potenzial ist riesig.
Die Hauptsache ist eine beißende Satire, die mich gerade zu Anfang komplett aus der Bahn geworfen hat. Sie beschreibt die neoliberale Arbeitswelt in derart treffender Überspitzung, dass man andauernd an eigene Erfahrungen denken muss. Leider ist der Spannungsbogen sehr schwach, wodurch es in der zweiten Hälfte immer mehr an Kraft verliert. Trotzdem eine wichtige Lektüre!
Hilary Leichter
Die Hauptsache
Deutsch von Gregor Ruge
Arche
224 Seiten | 20 Euro
Erschienen am 19.2.2021