[wortmeldungen 2022] Valerie Fritsch: Die Dame mit dem Zuckerfuß

Es geht weiter mit unserer Vorstellung der Shortlist-Texte zum WORTMELDUNGEN-Literaturpreis für kritische Kurztexte. Heute mit dem Text Die Dame mit dem Zuckerfuß von Valerie Fritsch und den Themen toxische Beziehungen und Pflege.

Der Pflegesektor ist nicht erst seit der Corona-Pandemie ein Sorgenkind im deutschen Sozialstaat. Geringe Bezahlung trifft hohe Arbeitslast, geringe Rentenansprüche treffen auf frühe Arbeitsunfähigkeit wegen schwerer körperlicher Tätigkeiten. Kein Wunder, dass es seit Jahren nicht gelingt, das gesellschaftlich so wichtige und mit der alternden Gesellschaft immer wichtiger werdende Berufsfeld für genügend Menschen attraktiv zu machen.

Die Dame mit dem Zuckerfuß nimmt die Leser*innen mit in diese Welt der Pflegearbeit. Er handelt von der ambulanten Pflegerin Agata, die täglich von Klient*in zu Klient*in fährt und dort ihre Arbeit macht – und das sehr gut, selbst die verschlossensten Alten kann sie zu einem Lächeln bringen. Und das trotz ständiger Zeitknappheit, hoher Belastung, geringer Bezahlung. Doch sie ist glücklich, denn sie liebt ihren Job.

Aber dann ändert sich mit einer neuen Beziehung plötzlich alles: Nach langer Einsamkeit lernt sie endlich jemanden kennen, den sie wirklich mag und der sie auch schätzt. Es geht dann alles ganz schnell, auch hier: endlich Glück. Doch es hält nicht lange, schnell nachdem sie bei ihm eingezogen ist, kippt die Beziehung ins Toxische. Agata muss um das angegriffene Ego ihres Lebenspartners herum leben, macht sich immer kleiner, gibt ihre sozialen Kontakte auf – bis ins wirkliche Unglück, das sie dann an ihren Klient*innen auslässt.

Die Dame mit dem Zuckerfuß verknüpft in einer konzentriert gearbeiteten Prosa-Erzählung die Themen Pflege, Einsamkeit und toxische Beziehungen zu einem Teufelskreis aus materiellen und emotionalen Abhängigkeiten. Sie zeigt eine Frau, die aus dem einfachen Wunsch, nicht allein zu sein, in einen Strudel des Unglücks gerät, den sie aus eigener Kraft kaum durchbrechen kann und der sie damit in existenzielle Not bringt – und ihre Klient*innen gleich mit, denn auch diese sind von ihr abhängig.

Hier könnt ihr den Text von Valerie Fritsch nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.


Valerie Fritsch
© Martin Schwarz

Deine Erzählung »Die Dame mit dem Zuckerfuß« beschäftigt sich mit den Themen Care-Arbeit und toxische Beziehungen – was interessiert dich hieran besonders? Wieso schreibst du darüber?

Pflege und Gewalt – die anderen Begriffe haben mir etwas zu Unpräzises, zu Steriles, fast Verschleierndes – beschäftigen mich seit langem, weil sie immer eine potentielle Bruchstelle im Menschen und in der Gesellschaft sind. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, was es heißen kann, einen todkranken Menschen zu pflegen, die unerhörte Belastung und die mögliche Schönheit, die mit dieser Art von Verantwortung, eines umfassenden Sich-Kümmerns einhergeht. Es sind Momente großer Preisgaben und Hilflosigkeiten, für beide Seiten. 
Die verschiedenartigen Mechanismen von Gewalt haben mich auch im Zuge der Recherche für einen neuen Roman interessiert: Ist jeder zu allem fähig, wie wird man schuldig, was macht Verzweiflung mit einem Menschen, was der Zufall, welcher Umstand oder welche Entscheidung schalten die Hemmungslosigkeit in einem frei, kann man gleichzeitig Opfer und Täter sein, und was bewahrt einen vor dem einen und dem anderen? Und dass es abseits dieser großen Fragen oftmals eine schreckliche Misogynie im Alltag gibt, macht mich, seit ich denken kann, ausgesprochen wütend.

Wieso hast du die Form der Erzählung und nicht bspw. die eines Essays gewählt?

Ich wollte einem Leben ein Leben geben, eine sprachliche Entsprechung, und keine Theorie. Jeder Text sucht sich seine ureigene Form, hat eine Eigengesetzlichkeit aus Bildern und Sätzen, eine Erzählung ist intim, nicht fern, mittendrin, ein gutes Gefäß für diese so hochpersönlichen und widersprüchlichen Themen. Sowohl bei Gewalt als auch Pflege geht es um fundamentale Verletzlichkeiten, und mir schien, die brauchen in ihrer Sichtbarwerdung ein eigenes Gesicht, ein eigenes Herz, sozusagen ein »Ich« und ein »Du«, statt ein »Man«.

Care-Arbeit wird meist von Frauen ausgeführt, Frauen leiden am häufigsten unter toxischen Beziehungen – glaubst du, wir sind an einem Punkt angekommen, an dem sich dies ändert?

Nein. 

Agata gibt die Gewalt, die sie im Privaten erlebt, an die Alten, die sie pflegt, weiter – ist das Treten nach unten eine typische Erscheinung unserer Gegenwart?

Es kann die letzte Macht der Ohnmächtigen sein, ein Ventil für vieles, auch eine Konsequenz aus dem Erlebten – und manchmal nicht, man muss ehrlich sein: nicht alles ist rückführ- und wegerklärbar, hin und wieder sind Menschen schlicht ungut, bloß weil es eine Möglichkeit auf der Welt ist. Für eine typische Erscheinung der Gegenwart halte ich es nicht, die Vergangenheit scheint mir in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden nicht weniger trittsicher gewesen zu sein. 

Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?

Literatur kann ein Sichtbarmachen leisten, eine Übersetzung noch der verstecktesten Einzelheiten der Realität, eine Kenntlichmachung eines Einzel- oder Kollektivschicksals im Wust der Welt. Und für den Leser selbst mag eine Geschichte ein Stolperstein sein oder ein Trost, eine Verstörung oder Verzauberung, ein neuer Gedanke, manchmal sogar ein Sich-Wiederfinden. 

Vielen Dank für das Interview, liebe Valerie.

Valerie Fritsch ist Schriftstellerin, Polaroidphotokünstlerin und Reisende von Afrika bis in den wilden Osten. Sie wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Peter Rosegger Preis des Landes Steiermark und dem Brüder Grimm Preis der Stadt Hanau 2021. Ihr letzter Roman Herzklappen von Johnson & Johnson ist bei Suhrkamp erschienen und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.


Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.


WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

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