Heute stellen wir euch den Text Männer mit Waffen von Joshua Groß vor. Der dritte Text auf der Shortlist zum WORTMELDUNGEN-Literaturpreis für kritische Kurztexte, den wir dieses Jahr begleiten.
Männer mit Waffen – lese ich den Titel, denke ich erstmal an Filme. Vielleicht weil gerade Berlinale war, vielleicht aber auch, weil Filme besonders plakativ bestimmte Grundkonstanten unserer Gesellschaft darstellen. Man denke nur an die große Zeit des Westerns, der Männer mit Waffen immer in den Mittelpunkt genommen hat, eine starke Hauptfigur ins Zentrum stellt, die meist mit Waffengewalt ihre Widersacher in Schach hält.
Dass diese Hauptfigur auch eine Frau sein kann, kommt wohl erst seit relativ kurzer Zeit vor. Interessant ist dabei vor allem, wie solche filmischen Archetypen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Zustände in ihrem Genre widerspiegeln. In einer Überhöhung der rohen alten Zeiten liegt sowohl ein Sehnen nach einfachen Zuständen als auch die Symbolisierung von Gewaltverhältnissen, die im Patriarchat fest verankert sind und sich bis ins Heute durchziehen.
Joshua Groß nimmt in Männer mit Waffen auch den Film in den Blick, wenn er auf seine eigene Geschichte und das Hineinwachsen in eine patriarchale Gesellschaft zurückblickt. Da geht es dann weniger um amerikanische Western, sondern um die in Deutschland nach wie vor sehr beliebten Winnetou-Filme, die sich am gleichen Mythos bedienen und den Jugendlichen zu Kriegsspielen im Wald animiert haben. Dazu gesellt sich auf der persönlichen Ebene jedoch noch mehr, Computerspiele, Luftgewehre, Gewaltfantasien von Mitschülern.
Die sehr persönlichen Gedanken zum Aufwachsen und Kennenlernen der Gewalt in verschiedenen Beziehungen werden begleitet von einem für die Texte von Joshua Groß typischen intertextuellen Spiel, das von Zitat zu Zitat, Medium zu Medium springt und Verknüpfungen schafft, wo sie zuvor kaum zu erahnen waren. So beginnt der Text mit einem Zitat von André Breton aus dessen Zweitem Manifest des Surrealismus, springt über Wolf Dieter Brinkmann zu Haiyti zu Haftbefehl und dann über Wilhelm Reich wieder zurück an den Anfang – um nur ein Beispiel zu nennen.
So kreist Männer mit Waffen sein Sujet aus zwei Richtungen ein, der persönlichen und der kulturellen, um es zu fassen zu bekommen. Doch sind männliche Dominanz und Machtgebaren, egal ob mit Schusswaffen oder struktureller Benachteiligung von allem, was nicht ins streng cis-heterosexuelle Männlichkeitsbild passt, kaum zu fassen. Die Muster sitzen so tief in unserer Gesellschaft, dass sie sich jedem einfachen Zugriff entziehen – gerade auch, da jedes Subjekt in die Mechanismen verstrickt ist, egal aus welcher Richtung und in welcher Weise. Es gibt kein Außen, und gerade das macht Männer mit Waffen unmissverständlich klar.
Hier könnt ihr den Essay von Joshua Groß nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir dem Autor ein paar Fragen gestellt.
Dein Text heißt »Männer mit Waffen« und handelt von männlichen Gewalt- und Machtphantasien, die das Patriarchat stützen und erhalten. Wie bist du darauf gekommen, gerade darüber einen Text zu schreiben?
Vor ein paar Jahren habe ich The Twittering Machine von Richard Seymour gelesen – ein Buch, das verschiedene Sollbruchstellen sozialer Netzwerke ausmacht und analysiert. In einem Kapitel über Trolle wird André Breton zitiert: dass es der einfachste surrealistischste Akt sei, auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge zu schießen. Daraufhin bezeichnet Richard Seymour Trolle als moderne Surrealist*innen. Ich habe immer wieder über dieses Bild nachdenken müssen – und an verschiedene Erlebnisse und Theorien, die daran anschließen. Schließlich habe ich mir das Zweite Manifest des Surrealismus besorgt und angeschaut, in welchem Kontext Breton seine Aussage trifft. Dann habe ich versucht, meine Irritation zu befragen. Aus dieser Denkbewegung wurde mein Essay.
Ich wollte die Irritation aber auch auf einer tieferen Ebene reflektieren, im Sinne von Donna Haraway, wenn sie schreibt: »Es ist wichtig, mit welchen Ideen wir Ideen denken.« In welchem Kontext wirkte Bretons Satz vielleicht befreiend oder radikal oder fantasievoll? Und was für Gefühle löst dieser Satz heute in mir aus, in welchem Kontext denke ich darüber nach?
Gibt es eine Welt nach dem bewaffneten Patriarchat?
Ich hoffe es – wenn die Erde dann noch bewohnbar sein sollte oder andere Habitate erschlossen werden können oder Terraforming funktioniert.
Du schreibst auch von deinen ersten Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit –gehört das Schreiben von Essays wie diesem zu deinen Werkzeugen, um kritisch mit deiner eigenen Männlichkeit umzugehen?
Ja, unter anderem. Insgesamt das Schreiben: um mich so weit wie möglich von den Konzepten und Ideologien zu entkoppeln, die ich bewusst oder unbewusst in mich aufgesogen habe. Aber auch, weil ich meistens nicht telepathieren kann.
Dein Essay ist stark intertextuell angelegt, inwiefern liegt solchen voraussetzungsreichen Methoden auch Macht inne und wie lässt sie sich dekonstruieren?
Eine Antwort ist: Als ich neunzehn Jahre alt war, habe ich mir auf einer Blogspot-Seite eine Aufnahme von Bachs Die Kunst der Fuge runtergeladen und auf meinen MP3-Player gezogen. Ich habe die Stücke beispielsweise in der S-Bahn gehört, gefolgt von U.G.K.-Songs oder Missy Elliott-Songs oder Trina-Songs oder Lil Wayne-Songs. Ich hatte keine Ahnung von klassischer Musik. Ich hatte nur illegale Versionen von Die Kunst der Fuge und Mahlers 5. Sinfonie. Die Kunst der Fuge hat mich in einen Zustand melancholischer Neugier versetzt, so als könnten Bäume fliegen vielleicht. Ich habe nichts Theoretisches dazu gelesen, und von Bachs Leben wusste ich auch nichts. Ein paar Jahre später hörte ich, wie eine renommierte Musikwissenschaftlerin sagte, man könne Die Kunst der Fuge erst verstehen und begreifen, wenn man über vierzig Jahre alt sei. Daraufhin war ich verunsichert. Ich hörte Die Kunst der Fuge wieder und wieder und fragte mich, was daran so schwierig sein könnte. Dann merkte ich, dass es mir egal ist. Vielleicht liegt zwischen mir und Die Kunst der Fuge ein massives Missverständnis vor. Trotzdem muss ich an fliegende Bäume denken, wenn ich die Musik höre.
Die Dekonstruktion könnte also darin liegen, Kunst nicht ans Verstehen zu koppeln. Das Verstehen ist m. E. das Uninteressanteste an Kunst. Das Nichtverstehen ist das Interessanteste. Was uns übersteigt, ist das Interessanteste.
Ich höre Die Kunst der Fuge immer noch. Ich bin immer noch nicht vierzig Jahre alt. Ich glaube, die fliegenden Bäume haben sich nie gefragt, wer Bach war.
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
Es gibt einen Vortrag von Ursula K. Le Guin zur Wichtigkeit des Lesens. Darin sagt sie einmal: »Wir alle müssen lernen, unser Leben selbst zu erfinden, zu erdenken, zu imaginieren. Diese Fähigkeiten müssen wir beigebracht bekommen; wir brauchen Vorbilder, die uns zeigen, wie. Andernfalls wird unser Leben von anderen Menschen für uns erfunden werden.« Das ist eine gute Antwort, finde ich.
Vielen Dank für das Interview, lieber Joshua.
Joshua Groß studierte Politikwissenschaft, Ökonomie und Ethik der Textkulturen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Anna Seghers-Preis 2019, dem Hölderlin Förderpreis 2021, dem Literaturpreis der A und A Kulturstiftung 2021 sowie mit einem Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquium Berlin 2021. Bei Matthes & Seitz erschienen Flexen in Miami und Entkommen.
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.