Die dunkle Seite der kompletten Vernetzung unserer Lebenswelt steht im Zentrum des neuen Romans von Philipp Winkler, Creep. Wie immer bei ihm mit geschärftem Blick auf die Ränder der Gesellschaft.
Es gibt nichts, das es nicht gibt – zumindest auf das sagenumwobene und doch auf härteste Weise reale Darknet trifft das komplett zu. Für mich ist es immer eigenartig, darüber zu schreiben, da ich selbst es lediglich aus Filmen, Serien, Dokus, Artikeln und Büchern kenne, also ehrlicherweise überhaupt keine Ahnung habe. Trotzdem wird das Thema immer wichtiger, gerade da, wo sich die globale Vernetzung mit dem Internet der Dinge und überhaupt immer mehr Cloudservices in alle Bereiche unserer Lebenswelt ausstreckt. Denn all dies hat auch immer dunkle Seiten, die dann im Darknet oftmals zum Ausdruck kommen.
Auch Junya und Fanni haben ihre Überschneidungen im Darknet, auch wenn sie sich vermutlich dort nie direkt »begegnet« sind. Junya ist ein Hikikomori, lebt als Erwachsener in seinem Kinderzimmer in Tokio, das er nicht mehr verlässt. Fast nicht, denn über Darknetforen hat er sich radikalisiert. Er hat den Hass, der über Jahre von Erniedrigungen, elterlicher Gewalt und Mobbing in ihm gewachsen ist, kanalisiert, indem er nachts bei Lehrern einbricht und sie mit einem Hammer verprügelt – oder schlimmer.
Fanni dagegen ist ganz oberflächlich sozial unauffällig. Sie arbeitet in einem Büro, hat eine eigene Wohnung, eine Beziehung zu ihren Eltern und auch zu Bekannten. Doch all das existiert nur auf genau dem Level, das es eben braucht, um nicht aufzufallen. Denn Fanni ist von der Gesellschaft angeekelt, zieht sich oft in Videospiele zurück. Viel mehr aber lebt sie in den Leben der Menschen, die sie über die Kameras des Überwachungsunternehmens beobachtet, für das sie arbeitet. Und gelegentlich mal ein paar Videos im Darknet verkauft, um die Erlöse zu spenden.
Sicherheitshalber hat Fanni Bounding Boxes um Naumanns gezogen. Das sollte einem flüchtigen Blick standhalten, falls jemand van ihrem Cubicle vorbeikommt oder falls Ugur, der im Cubicle hinter ihr sitzt, aufsteht. Schaut man genauer hin, kann man jedoch erkennen, dass Fanni keine normale Instance bearbeitet, sondern den Livefeed einer manuell aus der Datenbank aufgerufenen Kamera geöffnet hat. Sie ist bereit, das Risiko einzugehen, weil Moiras Eltern zu Besuch sind.
Creep erzählt aus den Leben von Fanni und Junya. Beide Stränge sind komplett unabhängig voneinander, sie berühren sich nur indirekt hier oder da, ohne sich aber zu beeinflussen. Gemeinsam ist beiden Handlungen aber, dass sie jeweils zeigen, wie das sehr geregelte Leben der beiden immer weiter aus den Fugen gerät und schließlich kippt.
Der Roman schildert seine Charaktere aus der dritten Person, ist jedoch sehr nah an ihnen dran und nimmt nur selten eine auktoriale Perspektive ein. Durch das tiefe Eintauchen wird zunächst ihr Gefühlsleben genau beschrieben. Damit zeigt Creep, wie wenig die beiden mit den sozialen Gegebenheiten anfangen können. Wie Fanni sich als Gefangene ihrer Meat Prison sieht, wie Junya immer wieder an innere Grenzen stößt, wenn er in soziale Interaktionen gezwungen wird.
Gleichzeitig taucht Creep aber auch in die Sprache der beiden ein, die von sozialen Medien, Internetforen und technischem Wissen geprägt sind. Dadurch ist der Roman sehr begriffsstark und eigenständig, aber auch authentisch und auf eine eigenwillige Art nahbar. So schafft Creep es, auch den für mich nicht ganz glaubhaften Plot von Junya so zu verkaufen, dass er trotzdem funktioniert – vielleicht ist die sich überlagernde Realität ja hier auch einfach in eine Hyperrealität abgedriftet, die man nicht beim Wort nehmen sollte.
Creep zeigt wortstark und authentisch die dunkle Seite der Digitalisierung. Fanni und Junya sind Beispiele für Menschen, die aus ganz unterschiedlich gestörten Verhältnissen kommen und mit der Komplexität der sozialen Normalität nicht kompatibel sind. In ihrem Handeln wird es dann creepy, wenn vernetzte Überwachung, Brutalität und Anonymität sich zu einer Dunkelheit vermischen, die immer auswegloser erscheint.
Philipp Winkler
Creep
Aufbau
342 Seiten | 22 Euro
Erschienen im Januar 2022