Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

Nach dem Tod des Vaters folgt ein tiefes Loch: Yade Yasemin Önders Debüt Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron ist Traumaverarbeitung auf hohem literarischen Niveau.

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

Ob es eine Welt gibt, in der wir der Corona-Pandemie danken, dass so viele junge Autor*innen endlich ihre Debüts vollenden und veröffentlichen konnten? Vielleicht ist das alles auch einfach kompletter Zufall, aber im Frühjahr 2022 hagelt es tolle Debüts – passend zum hagelfreudigen April. Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron von Yade Yasemin Önder stellt sich hier auf Poesierausch erstmal neben Sven Pfizenmaiers Draußen feiern die Leute, das ebenfalls gerade erschienen ist und überzeugt. Nicht ganz von ungefähr erinnert es auch an das großartige Debüt Streulicht von Deniz Ohde aus dem letzten Jahr – aber dazu später mehr.

Bei Yade Yasemin Önder tauchen wir nun ganz tief ein in die Gedankenwelt der namenlosen Protagonistin. Ihr stark geformter Gedankenstrom zieht seine Bahnen, die immer wieder überraschen und selten ein klares Bild des Geschehens zeichnen. So ist es genauso schwierig wie unnötig, einen Plot zu zeichnen – denn eine Gedankenwelt kreist eben immer auch viel um sich und achtet weniger auf rational Erfassbares um sich herum.

Kein Wunder, denn was hier um die und mit der Protagonistin passiert, ist schwer zu fassen. Ihr Vater stammt aus der Türkei, ihre Mutter aus Deutschland, was sie in der Wahrnehmung vieler Menschen zu einem »Mischling« macht, der nirgendwo dazugehört. Als ihr Vater dann stirbt, erleidet sie ein schweres Trauma und bleibt mit der überforderten Mutter zurück. Sie entwickelt eine Magersucht, mit der die Mutter nicht umgehen kann – und sie selbst gerade zu Anfang noch viel weniger, weshalb sie von Zuhause auszieht, sobald es irgendwie geht. Ziemlich viel für eine Teenagerin.

Trifft man einen Nachbarn zufällig beim Laufen und sagt der einem, dass es neulich wieder so gut gerochen hätte, und fragt der dann auch noch, was man denn wieder Gutes gekocht habe, weiß er Bescheid. Aber eine Wahl hat man nicht. Wer nicht lüftet, kann gleich im Treppenhaus ein Schild aufstellen: »Hallo, die Bulimikerin bin ich.« Die Minuten, in denen die Beweise aus dem Fenster ziehen, muss man aushalten. um darin nicht durchzudrehen, versucht man am besten zu verstehen, was die nervigen Kinder im Hinterhof singen.

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron lässt die Leser*innen ungefiltert ein in die paranoiden Gedanken der Protagonistin, in dem sich alles um ihre Magersucht dreht, um die sich wiederum die verschiedenen Bedrohungen für das noch junge Ich gruppieren. Rassistische Diskriminierung trifft Misogynie, der Verlust des überaus essfreudigen Vaters trifft Schönheitsideale und die typische pubertäre Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper.

Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf, sind aber formal in sich bzw. kleinen nummerierten Gruppen abgeschlossen. Mal aphoristisch kurz, mal ausufernd lang stehen sie für eine Suchbewegung, die sich im Schreiben ihren Ausdruck sucht. So schwanken die Texte nicht nur in der Länge, sondern auch der Form stark. Sind manche fast geradeheraus biographische Anekdoten, folgen andere strengen therapeutischen Methoden oder assoziieren frei von einem gegebenen Anfang dahin. Das ist durchaus auch mal anstrengend zu lesen, aber nie so sehr, dass es dem Buch schaden würde.

Alles in dem Roman zeichnet das Bild einer heillos überforderten, schwer traumatisierten und in vielen Lagen hilflosen jungen Frau. Zwar gibt es Licht am Ende des Tunnels, das immer wieder in reflektierteren Passagen durchscheint. Aber der Würgegriff der Krankheit ist erschreckend fest im Erzählen der Protagonistin eingeschrieben. Gerade hier – und in den Themen Migrantisierung, Klassismus, Coming-of-Age – trifft sich Wir wissen, wir könnten, und fallen synchrom mit Streulicht von Deniz Ohde. Beide Romane teilen den schreienden Ausdruck von Ungerechtigkeit, der sich aus einem nach innen gewandten, tastend-leisen Duktus Bahn bricht.

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron ist ein starkes Stück Literatur, das bei allen Schwankungen im Gedankenfluss der Protagonistin nie die üergeordnete Form verliert. Es ist ein Einblick in eine verletzte Psyche, so intim wie schmerzvoll, beeindruckend wie verstörend.

Yade Yasemin Önder

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

Kiepenheuer & Witsch

256 Seiten | 20 Euro

Erschienen im März 2022

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

3 Kommentare

  1. Hallo Stefan,

    das klingt in der Tat so, als sei es quasi ‚verwandt‘ mit »Streulicht«! Und auf jeden Fall so, als müsste ich es bald mal lesen.

    LG,
    Mikka

    • Auf jeden Fall! Ist deutlich vielseitiger und auch formal etwas anstrengender als „Streulicht“, aber auch richtig gut. Viel Spaß damit!

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