Plattformkapitalismus trifft digitale Romantik: In ihrem zweiten Roman Automaton erzählt Berit Glanz eine Near-Future-Geschichte, in der das Gute im Menschen gegen die spätkapitalistische Verwertungsmaschinerie aufbegehrt.
Klickarbeit. Schon heute eine Tätigkeit, die weltweit von unglaublich vielen Menschen ausgeübt wird. Für viele ein netter Zuverdienst: Mal hier für irgendwen Posts liken, dort Klicks generieren. Schnell gemacht, ein wenig Geld dazuverdient. Für viele Menschen jedoch die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Und wenn man auf das Geld angewiesen ist, sehen auch die Jobs nicht mehr unbedingt so rosig aus. Mechanisch Gold oder Punkte grinden in irgendwelchen Online-Spielen dürfte da noch das Harmloseste sein. Missbrauchsdarstellungen von YouTube prüfen ist da schon eine ganz andere Hausnummer.
In Automaton von Berit Glanz, ihrem zweiten Roman nach Pixeltänzer, befinden wir uns in einer Near-Future-Welt, die sich ziemlich nach unserer anfühlt. Die Menschen agieren ganz ähnlich, auch die Technologie wirkt vertraut. Es werden Videos im Internet angeschaut, E-Mails geschrieben, gechattet. Normal. Nur die Klickarbeit ist – zumindest im dargestellten Milieu – schon deutlich stärker institutionalisiert.
Der Titel Automaton bezeichnet die Klickarbeiter*innen, die alle über eine Plattform von anonymen Auftraggebern Jobs erhalten, sogenannte Autobs. Wie die Klickjobs heute sind auch diejenigen im Roman durchaus unterschiedlich. Auch wenn die Automatons im Normalfall nicht wissen, wozu sie einen Job ausführen, so können sie doch oft zumindest recht zuverlässige Vermutungen anstellen. Oft geht es darum, Videos auszuwerten und bestimmte Ereignisse darin zu taggen. Vermutlich, um eine KI zu trainieren oder auch zu ersetzen, was nicht von ungefähr sehr an Creep von Philipp Winkler erinnert.
Als die Protagonist*innen des Romans in einem dieser Videos einen Obdachlosen entdecken, der nachts seinem Hund vorliest, sind sie entzückt. Es ist ein Kleinod in einem ansonsten meist extrem tristen Job, der so wenig abwirft, dass fast ununterbrochen gearbeitet werden muss. Doch als der Obdachlose plötzlich spurlos verschwindet, bricht eine kleine Welt für sie zusammen. Schockiert verbünden sie sich und setzen alle Hebel in Bewegung, um sein Schicksal aufzuklären und ihm womöglich zu helfen.
Seitdem Tiff die Wohnung nur noch verlässt, wenn es unbedingt nötig ist, haben sich neue Routinen und Haltungen ausgebildet. Dazu zählt auch das Wachsenlassen der Haare, um die Friseurtermine zu sparen, die sie sich mittlerweile auch nicht mehr leisten könnte. In unregelmäßigen Abständen nimmt sie die Küchenschere und schneidet von ihrem Zopf das unterste Stück einfach ab.
Automaton lebt vor allem von seinem Setting, dass unsere Realität mit Plattformkapitalismus, immer stärkerer Ausbeutung von Benachteiligten und versagenden Sozialsystemen nur leicht weiterdreht, um die erschreckenden Tendenzen noch weiter zu bestärken. Das geht nie so weit, dass man voll und ganz von einer Dystopie sprechen könnte. Und doch hat der Roman den leichten Anschein davon. Darüber hinaus wird er getragen von einer großen Intimität der Erzählweise. Die Protagonistin Tiff – wohl nicht ganz zufällig auch der Name eines Bildformats? – wird personal erzählt, in Chats wird die Interaktion mit anderen Automatons, die sich aus einem Forum Gleichgesinnter kennen, weitergesponnen.
Die so generierte Stimmung und der konsistent durchgehaltene Stil der Erzählweise halten den Roman zusammen. Der Plot hat dabei ein klein wenig etwas von einem Near-Future-Märchen. Auch wenn die Suche nach dem Obdachlosen alles andere als leicht ist, steuert der Roman doch ziemlich geradlinig auf ein Happy End zu, das nicht vor etwas Kitsch zurückschreckt. So ernüchternd dies auf den ersten Blick klingen mag, so erfrischend ist es aber auch, mal einen Roman mit einer leicht daherkommenden, positiven Message zu lesen, der es trotzdem schafft, nicht nur oberflächliche Kritik an den derzeitigen politökonomischen Entwicklungen zu üben.
Mich konnte Automaton nicht so sehr in seinen Bann ziehen wie damals Pixeltänzer. Trotzdem ist Berit Glanz’ zweiter Roman ein guter und würdiger Nachfolger, der nicht ein Erfolgsrezept kopiert, sondern es anders zu machen versucht. Das glückt dem Roman komplett, vielleicht auch gerade wegen seines so positiven, geradlinigen Plots. Er hat mir damit auch ganz nebenbei gezeigt, dass es auch für mich vielleicht nicht immer der düsterste, hoffnungsloseste Stoff sein muss. Man lernt einfach nie aus.
Berit Glanz
Automaton
Berlin Verlag
288 Seiten | 22 Euro
Erschienen im Februar 2022