Es geht weiter mit der Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreis für kritische Kurztexte. Wir stellen euch heute drei weitere Finalist*innen und ihre Texte vor: Julienne De Muirier, Anna Fedorova und Tara Meister.
Beim WORTMELDUNGEN Förderpreis werden wieder neue Stimmen zu relevanten gesellschaftlichen Themen gesucht. Zehn Autor*innen sind mit ihren Texten zu den Themen, Flucht, Exil und Heimat für die Shortlist nominiert. In drei Beiträgen stellen wir sie euch vor, bevor im November dann die drei Preisträger*innen gekürt werden. Wie immer könnt ihr alle Texte auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachlesen – wir verlinken sie aber auch einzeln bei jedem Text.
Julienne De Muirier: Nachtfahrt
In nur weniger Sätzen erweckt Nachtfahrt von Julienne De Muirier eine kleine Welt zum Leben. Der Text entführt die Leser*innen nach Köln, wo sie mit der namenlosen Protagonistin eine Fahrradfahrt aus ihrem Viertel, vermutlich Ossendorf, zur Nachtapotheke nach Ehrenfeld macht. Auf den wenigen Kilometern fährt sie von der Armut in den Wohlstand, aus dem sogenannten Problem- ins Hipsterviertel. Die Gedanken der Protagonistin folgen der Diskrepanz scharf und legen ihre Scham frei, arm zu sein in einer Stadt, die unendliche Möglichkeiten bietet – für die, die es sich leisten können.
Wir haben Julienne De Muirier ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Exil und Heimatlosigkeit sind Themen, die in meiner Arbeit zentrale Fragen aufwerfen. Ich glaube auch, es sind Themen, die von einer afro-diasporischen Perspektive nicht zu trennen sind.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
Der Winkel der Fotos verdeckt den Oberkörper und den Kopf der Person. Damit ist die Position des gesamten Körpers uneindeutig. In den Bildern verändert sich die Position der Beine und Füße. Vielleicht ist die Person bereit aufzustehen, vielleicht wartet sie. Ich habe diese Bildreihe ausgewählt, weil sie sich mit Unruhe beschäftigt.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
In Nachtfahrt geht es um die Gedanken einer Schwarzen jungen Frau, die nicht zur Ruhe kommt, so wie niemand um sie herum zur Ruhe kommt. Der Text handelt von sozialer Scham und davon, dass es keinen absoluten Weg hinaus und ebenso wenig einen absoluten Weg zurück gibt.
Vielen Dank für deine Antworten.
Julienne De Muirier (*1994 in Köln) lebt als freischaffende Autorin in Dortmund. Sie schreibt Prosa, Dramatik und Drehbuch. Ihre Prosa wurde u.a. in der BELLA triste, Das Narr und YALLAH SALON veröffentlicht.
Anna Fedorova: Unheimat
Im autobiographischen Essay Unheimat schreibt Anna Federova in entwaffnenden Sätzen über das Land ihrer Geburt, der Ukraine, und ihre Beziehung zu ihr, jetzt, nach dem russischen Angriff. Und als schon vor Jahren nach Deutschland Ausgewanderte. In intensiver Sprache ringt sie mit ihren Gefühlen einem Land gegenüber, das sie kaum selbst erfahren hat, es vor allem als Idee kennt, das aber trotzdem in ihr und ihrer Familie ist und von dem sie nicht loskommt. Dass sie aus Charkiw im umkämpften Osten der Ukraine kommt, macht es nicht einfacher. Damit ist der Text auch eine subjektive Chronik der russischen Invasionen seit 2014.
Wir haben Anna Fedorova ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Herkunft und Heimat waren die Themen meiner ersten Schreibversuche. Ich begann ambitioniert, Kurzgeschichten zu schreiben, aber die Resultate schienen mir zu gewollt und darüber hinaus auch noch gelogen. Ich gab das Thema bald auf und blieb auf einer Menge Material sitzen, das sich nicht zusammennähen ließ. Als ich den Aufruf von Volha Hapeyeva las, erschien mir der Essay in seiner Eigenschaft, immer nur ein Versuch der Annäherung sein zu können, als die passende Form.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
Meine Verbindung zu meinem Geburtsland Ukraine ist ein Gobelin aus losen Fäden, die ich zusammenzubinden versuche und all diese Narrative sind konstruiert, sie folgen Konventionen, wie wir Geschichten erzählen. Meine Heimat ist Vorstellung, keine topologische Wirklichkeit.
Vielen Dank für deine Antworten.
Anna Fedorova (*1992 in Charkov) ist in Süddeutschland aufgewachsen und lebt und arbeitet in Berlin. Hat vieles studiert, Kunstgeschichte und Philosophie abgeschlossen. Veröffentlichungen u.a. in Metamorphosen, Lyrik von Jetzt 3 und ]trash[pool.
Tara Meister: lose prinzen, märchen
Die Erzählung lose prinzen, märchen von Tara Meister nimmt uns mit in eine linke feministische WG, die von einem neuen Mitbewohner gehörig aufgemischt wird. Der queere Geflüchtete Liam schockt die beiden Mitbewohnerinnen nachhaltig durch sein komplett unangepasstes Verhalten, seine Worte, seinen Stolz, queer zu sein und genau das sagen zu können, was er meint, ohne auf die Szenecodes der eigentlich explizit queerfreundlichen Linken Rücksicht zu nehmen. Doch hinter der starken Fassade steckt ein Schmerz, der sich langsam herausschält. Ein starker Text, der in kurzen, stakkatoartigen Sätzen eine kleine Geschichte über Identität und Fassaden erzählt.
Wir haben Tara Meister ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Ich wollte diesen Text schon länger schreiben und ich glaube, ich habe mich nicht getraut, weil für mich die Frage nach der Perspektive unklar war.
Auf den Aufruf von Volha Hapeyeva hin habe ich mich intensiver mit dem Thema Flucht und Heimatlosigkeit auseinandergesetzt und damit, wie eine persönliche, aber auch literarische, aber auch politische Annäherung aussehen könnte und irgendwann hatte ich das Gefühl: Jetzt kann ich es versuchen.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
Foto: Derriere la gare Saint-Lazare, dazu das Lied »You Don´t Know Me« von Caetano Veloso.
Ein Mann im Sprung, fast mehr ein Schatten als ein Mann, und im nächsten Moment – das wissen wir – wird er aufkommen, im Wasser unter ihm, aber für diesen Augenblick ist er in der Luft. Wir sehen nur einen Schemen, kein Gesicht, keine Details, und hinter ihm einen Zaun und eine Mauer. Es gibt ihn und seine Umgebung und dann noch einmal alles gespiegelt in dem Wasser unter ihm. Er scheint im Begriff, das Foto zu verlassen. Dieses Foto bringe ich mit meinem Text in Verbindung.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
Der Text erzählt davon, wie ein junger Mensch an einem neuen Ort landet und dort Bewegung verursacht – Bewegung aufeinander zu und aneinander vorbei, von Vergangenem weg und aus festgesteckten Rahmen hinaus. Es geht um Erwartungen, Privilegien und die Unmöglichkeit eines Ankommens.
Vielen Dank für deine Antworten.
Tara Meister (*1997 im Kloster Frauenchiemsee) ist in Kärnten aufgewachsen. Sie studiert Humanmedizin in Wien und ab Herbst Literarisches Schreiben in Leipzig. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet und in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften publiziert.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.