Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher zeichnet in ihrem autofiktionalen Roman Lügen über meine Mutter das Bild einer deutschen Kleinfamilie in den 1980er-Jahren und zeigt auf schmerzliche Weise, wie das Private auch immer mit dem Gesamtgesellschaftlichen zusammenhängt.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Eine Kleinfamilie im Hunsrück der 1980er-Jahre: Ela lebt zusammen mit ihren Eltern auf dem Hof der Großeltern väterlicherseits. Die Kindheit auf dem Dorf ist zunächst unbeschwert, es gibt genügend Platz zum Spielen, und es mangelt an nichts. Doch mit dem Älterwerden schärft sich der Blick des Kindes, und es bemerkt, dass es wohl ein essenzielles Problem in der Familie gibt: das Gewicht der Mutter. Ihre Körperform wird nicht nur ständig vom Vater kommentiert und kontrolliert (überwachtes Wiegen, Kalorientagebuch), sie muss auch herhalten als Grund für jegliche Misserfolge, die dem Familienoberhaupt widerfahren – seien es die ausbleibende Beförderung oder die fehlende Anerkennung in der Dorfgemeinschaft.

Je weniger dem Vater privat als auch beruflich gelingt, desto stärker fokussiert er sich auf den Körper der Mutter als Ursprung allen Übels. Sie kämpft dagegen an, mit Worten, mit Diäten – »Weight Watchers« war in den 80ern DER neue Weg zu weniger Kilos auf den Hüften –, mit Sport, mit Emanzipation und sogar mit einer OP. Doch nichts ist Anstrengung genug für den Vater, sein Sündenbock bleibt die Figur der Ehefrau.

Ela – übrigens eine der wenigen Figuren mit Namen im Roman – kann sich anfangs noch gegen die ständige Abwertung ihrer Mutter wehren, doch ganz allmählich übernimmt auch sie den Blick des Vaters, worauf sie nicht gerade stolz ist.

Was für ein Paradox: Ich hätte als Heranwachsende alles dafür gegeben, meine Mutter vor den abschätzigen Blicken ihrer Umgebung beschützen zu können. Zugleich aber registrierte ich eine erwachende Scham in mir.

Als die Mutter schließlich viel Geld erbt, scheint der Hausfrieden für geraume Zeit geradegerückt, denn nun kann der Vater sich endlich jene Statussymbole zulegen, von deren Besitz er sich seinen gesellschaftlichen Aufstieg erhofft: ein schickes neues Haus, einen Sportwagen, die Tennisausrüstung – ebenfalls ein Trend in den 1980ern, nachdem Boris Becker als jüngster Spieler Wimbledon gewann. In dieser Zeit kann die Mutter verschnaufen, sich um die mittlerweile zwei Kinder, ihre pflegebedürftige Mutter und ein Pflegekind kümmern. Für sich selbst hat sie allerdings so gut wie nie Zeit. Selbstfürsorge – Fehlanzeige. Und so nimmt dieses stille, weil von außen nur bedingt sichtbare Familiendrama – bürgerliche Familien leiden ja oft im Geheimen, weil: Was sollen denn die Leute denken? – seinen Lauf, bis es nicht mehr weitergeht.

Lügen über meine Mutter ist ein intensiver, beklemmender Roman. Wir verfolgen hier ein Kammerspiel, in dem alles einengend wirkt: die triste Provinz, das Einfamilienhaus, das Setting der Kernfamilie, der beschränkte, kindliche Blick, aus dem die Geschichte erzählt wird – und das in einer unfassbar passenden Sprache. Aufatmen können wir nur in den essayistischen und reflektierenden Einschüben, die nach den meisten Kapiteln kommen und aus Sicht der erwachsenen Ela geschildert werden. Ich hatte zunächst Probleme mit diesen Einschüben, weil sie mich als Unterbrechungen der Hauptgeschichte gestört haben und ich den Eindruck hatte, sie nicht zu brauchen. Doch je weiter ich gelesen habe, desto glücklicher war ich darüber, dass es sie gibt. Weil sie die Sicht auf die Mutter hinterfragen, die Gedanken des Kindes einordnen und so die Hauptfigur Ela erst wirklich komplettieren.

Daniela Dröscher legt mit ihrem neuen Roman den Finger in die Wunde der Idealvorstellung der kleinbürgerlichen Familie. Lügen über meine Mutter zeigt, wie toxische Beziehungen sich auf alle Bereiche des Lebens ausweiten können, wie sie die unbedarften Sichtweisen von Kindern zerstören. Dabei steht das unaufhörliche Bodyshaming des Vaters im Mittelpunkt – und obwohl Elas Mutter trotzdem als starke Person gezeichnet wird, kann auch sie ihr Selbstwertgefühl irgendwann nicht mehr davor schützen.

So habe ich diesen Roman als einen durch und durch feministischen gelesen, der aber auch ein Stück westdeutsche Geschichte nachzeichnet – die 1980er-Jahre, als alles möglich schien und Menschen wie Elas Vater am Ende doch nicht den Klassenaufstieg schafften. Lügen über meine Mutter erzählt von verpassten Chancen, Versuche der weiblichen Emanzipation, klassistischen Strukturen und einem Kind, das zwischen den Stühlen steht und durch das Verhalten der Eltern für immer geprägt sein wird.

In dem Kammerspiel mit Namen »Familie« wird das Kind nicht selten zum Blitzableiter der Kräfte, denen die Frau im Patriarchat unterworfen ist.

Auch wenn ich inständig hoffe, dass wir heutzutage weiter sind und das Patriarchat nicht mehr so leicht unsere innigsten Beziehungen kapern lassen, denke ich leider auch, dass es weiterhin Familien wie jene von Ela gibt. Deshalb ist Lügen über meine Mutter ein wichtiger und aufklärender Roman, der ganz zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 stand.

PS: Wenn ihr Lust habt, lest doch gern nochmal unser Interview mit Daniela Dröscher, das wir mit ihr als Mitinitiatorin der wunderbaren Veranstaltungsreihe »Let’s talk about class« geführt haben und in dem es ebenfalls um Klassismus geht.

Weitere Besprechungen zu diesem Buch findet ihr u.a. auf den Blogs missmezmerized und Buch-Haltung.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter | KiWi | 448 Seiten | 24 Euro | erschienen im August 2022

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