[wortmeldungen 2023] Judith Schalansky: Schwankende Kanarien

Nach dem Preis ist vor dem Preis: Auch in diesem Jahr begleiten wir wieder den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte und freuen uns sehr darüber. Wir starten gleich mit der Vorstellung des ersten Texts der diesjährigen Shortlist: Schwankende Kanarien von Judith Schalansky.

Die Bilder aus Lützerath stehen uns allen noch unmittelbar vor Augen. So wenig die Räumung des kleinen Dorfes selbst ändert, so groß ist die Symbolkraft eines ausartenden Polizeieinsatzes zum Schutz der Kohlekraft. Zum Schutz einer Energie, die mit ihren Emissionen die Klimabilanz Deutschlands und der Welt weit nach unten zieht und weiter nach unten ziehen wird. Und die neben Gas- und Kernenergie den politischen und medialen Diskurs immer mehr beherrscht als der viel dringendere Ausbau der Energieinfrastruktur und der regenerativen Energien. Hätten wir doch nur ein Frühwarnsystem gehabt, um eher auf diese Situation gefasst gewesen zu sein, mögen manche nun stöhnen.

In ihrem Essay Schwankende Kanarien setzt sich Judith Schalansky mit dem Klimawandel und auch mit der Sehnsucht nach Warnungen auseinander. Das Symbol dieser Warnungen wird dabei der Kanarienvogel. Er wurde noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in Minen eingesetzt, um frühzeitig auf eine erhöhte Gaskonzentration hinzuweisen und so die Leben der Minenarbeiter zu retten. Eine enge Symbiose zwischen Mensch und Tier, Mensch und Natur, um das gegenseitige Überleben zu sichern – der aber selbst schon Gegensätze eingeschrieben sind, so sind doch die Kanarienvögel in das System der Naturausbeutung direkt eingebunden.

Genau um diese Aporien geht es Schalansky, wenn sie die Geschichte der Minenvögel mit ihrem eigenen Alltag und der Forschung zum Klimawandel in Beziehung setzt. Hier wird klar, dass die heutigen Folgen der Naturverschmutzung schon seit den 1970er Jahren bekannt sind, Frühwarnungen also eigentlich da waren. Doch wie lassen sich Menschen davon überzeugen, tatsächlich ihre über Jahrzehnte liebgewonnenen Gewohnheiten zu ändern? Welchen psychologischen, welchen narrativen Trick können wir noch finden, um sie zu überzeugen? Ist gar die Kunst das Mittel der Wahl?

Hier könnt ihr den Essay von Judith Schalansky nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.


Judith Schalansky
© René Fietzeck

Dein Essay Schwankende Kanarien lebt von seinen Fakten und Exkursen. Wie liefen die Ideenfindung und Recherche im Vorhinein ab?

Am Anfang stand diese seltsame Metapher vom Kanarienvogel im Bergwerk, die ein ausgesprochen enigmatisches, attraktives Bild evoziert: das eines kleinen, farbenfrohen Wesens in der Unterwelt. Mich interessierte einfach: Woher kommt dieses Sprachbild? Wie kommt der Vogel in den Schacht und was macht der da? Und welche Begrifflichkeiten stehen uns zur Verfügung, um unmittelbares Handeln anzumahnen, wie es eben jene als Wächtertiere gehaltenen Bergwerkskanarien taten, deren plötzliches Verstummen lebensbedrohliche Bedingungen anzeigten und das Signal dafür waren, so schnell wie möglich an die Erdoberfläche zurückzukehren. Ich stieß auf den Erfinder dieses Frühwarnsystems, das heute vor allem noch in der englischen Sprache fortlebt, wo der »canary in the coalmine« auch jene klimatischen Kipppunkte bezeichnet, die Folgen der Fossilwirtschaft sind. Mir war klar, dass sich hier etwas offenbart, das erzählenswert ist, und ich wollte in meinem Text diese Verbindungslinien und Suchbewegungen erfahrbar machen. Zumal der Bergbau von Beginn an ambivalent gesehen wurde: Als eine ungeheure Kunst, eine Fertigkeit, aber eben auch als ungeheuerlicher Frevel, als Vergewaltigung der Erde. Die Bergwerkskanarien entpuppten sich im Zuge meiner Recherchen selbst als eine Art Kippbild, mit dem sich immer neue Erkenntnisse und Beobachtungen zu Tage fördern ließen.

Du bist Herausgeberin der Reihe »Naturkunden« bei Matthes & Seitz, und auch in deinem Essay ist es ein Tier, das nicht nur titelgebend ist, sondern sich auch als Metapher durch den gesamten Text zieht. Hat sich dein Blick auf den Kanarienvogel nach dem Schreiben gewandelt und woher kommt die Begeisterung für das Tierische in Kombination mit dem Literarischen?

Der Kanarienvogel ist ein Kulturprodukt, von menschlichem Gestaltungswillen ähnlich geprägt wie unsere Parklandschaften und Wälder. An ihnen lassen sich die Dilemmata des Anthropozäns gut aufzeigen, beispielsweise die Frage, welche Art von Natur wir eigentlich für wertvoll und schützenswert halten?
Als Herausgeberin der »Naturkunden« merke ich immer wieder, dass sich die Natur- nicht von der Kulturgeschichte trennen lässt und dass wir selbst beim vorurteilsfreien, genauen Blick auf nichtmenschliche Tiere nicht aufhören können, von uns selbst zu reden. Aber das tun, wie ich aus Eva Meijers staunenswerten Buch Sprachen der Tiere gelernt habe, Delfine und Elephanten, Erdhörnchen und Eidechsen, Tintenfische und Motten auch. Sie informieren einander und erzählen von sich. Und sie reden über uns. Nicht nur wegen dieser Erkenntnisse ist es überfällig, nichtmenschliche Tiere als Mitgeschöpfe zu betrachten, denen nicht nur in der Dichtung, sondern endlich auch in der menschlichen Gesetzesliteratur eine differenzierte, respektvolle Sprache zugestanden wird. Andere Blickwinkel einnehmen, Grenzen überwinden, all das gehört ja zu den ureigensten Zielen der Literatur. Wenn man an die Anfänge zurückdenkt, an die Höhlenmalerei, dann zeigen diese vor allem Tiere: Stiere und Wildpferde, Hirsche und Mammuts – und dann und wann auch etwas, das ein Mensch sein könnte. 
Während der Arbeit an dem Essay, irgendwann im Sommer, landete ein grüner Wellensittich im Garten einer Nachbarin, auf deren Terrasse ich gerade saß. Es war ein Moment der totalen Verführung. Er würde in Freiheit nicht lange überleben. War das schon Grund genug, ihn einzufangen? Ich schwankte. Er sah putzmunter aus. Als wir die Tischdecke holten, mit der wir ihn übermannen wollten, war er verschwunden – und ich erleichtert.

Du bringst in deinem Text auch die Erschöpfung zur Sprache, die viele Menschen angesichts des rasant voranschreitenden Klimawandels spüren – wie gehst du damit um, hilft dir das Schreiben?

»Ecological grief« ist etwas, das viele angesichts des menschengemachten desaströsen Zustands der Erde verspüren, Trauer über das Aussterben einzelner Arten, Trauer über die Zerstörung ganzer Ökosysteme und Trauer über die Fragmentierung eines in unvorstellbaren Zeiträumen gewachsenen, verflochtenen planetarischen Lebensgebildes, das manche Gaia nennen. Trauer kann hilflos machen, anfällig für defätistische Haltung und Untergangsszenarien. Doch die ökologische Krise ist auch eine Krise des Erzählens, wie Rebecca Solnit kürzlich im Guardian noch einmal betonte. Offenbar sind wir eher bereit, uns die Apokalypse auszumalen als uns eine andere, eine nachhaltige Welt vorzustellen, und ein Wirtschaften, das diesen Namen verdient, ein Haushalten mit dem, was uns – und anderen Lebewesen – zur Verfügung steht. Es geht auch darum, den düsteren Narrativen vom Ende der Welt zu widerstehen und produktivere Gattungen, Mythen und Metaphern zu erfinden. Unsere Erzählmuster sind erstaunlich überschaubar und extrem menschenbasiert. Wir hängen in überkommenen, narrativen Strukturen fest, die Krisen und Katastrophen zumeist nur als Heldengeschichten zu erzählen wissen. Die Klimakrise oder das sechste Massenaussterben sind allerdings selbst für ein auserwähltes Individuum eine Nummer zu groß. Mit Herakles oder Superwoman oder der dramaturgischen Zuspitzung auf den einen Wende- oder eben Kipppunkt kommt man da nicht weit. Aber womöglich mit dem literarischen Essay, in dem sich Anschauung, Wissen und Einfühlung verbinden lassen.

Du erklärst außerdem, welche unterschiedlichen Rollen die Wissenschaft und die Kunst in unserer Gegenwart einnehmen – wie können beide sich noch besser ergänzen, um ein Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels zu schaffen?

Kunst und Wissenschaft – und Religion – sind Ausprägungen derselben Sache: sich einen Reim aus dem zu machen, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Um Annie Dillard zu zitieren: »Wenn wir nur einmal hier auf dem Planeten sind, lohnt es sich vielleicht ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo wir sind.« Gerade in den gegenwärtigen Krisen wird offenbar, wie sehr sich Kunst und Wissenschaft nacheinander sehnen, die Kunst sich zunehmend der Forschung widmet und die Forschung den narrativen Mustern, die wir offensichtlich benötigen, um etwas zu kapieren.

Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?

Alles natürlich. Sie kann Denkräume öffnen, utopische Reiche begründen, Verlorenes bewahren, Zukünftiges beschwören – und buchstäblich Leben retten, wie Rachel Carson mit ihrem erzählerischen Sachbuch Stummer Frühling das Leben von unzähligen Wirbeltieren gerettet hat, allen voran Vögeln.

Vielen Dank für das Interview.

Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kommunikationsdesign und Kunst­geschichte und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Seit 2013 gibt Judith Schalansky die Reihe Naturkunden und seit 2022 die Bibliothek Wildes Wissen im Verlag Matthes & Seitz Berlin heraus. Ihre Bücher, darunter der Atlas der abgelegenen Inseln (2009), der Bildungsroman Der Hals der Giraffe (2011) sowie das Verzeichnis einiger Verluste (2018) sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet.


Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.


Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann und Volha Hapeyeva. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

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