Heiße Tage, Schwimmbadatmosphäre und eine Protagonistin, deren Lebensrealität mit diesem Sommersetting bricht. Klingt erstmal nach einem coolen Debüt, und der Hype um 22 Bahnen von Caroline Wahl spricht ja eh für sich – oder?
Tilda studiert Mathe, arbeitet nebenbei an einer Supermarktkasse, verbringt den Rest ihrer Zeit im Freibad und damit, ihre kleine Schwester Ida so gut es geht vor den Ausbrüchen der alkoholkranken Mutter zu beschützen. Das ist auch der Grund dafür, dass sie nie aus der tristen Kleinstadt weggezogen ist. Ganz anders als beispielsweise ihre beste Freundin, die mittlerweile ein Leben voller Party und Aufregung in der Großstadt führt.
Tildas Leben dagegen plätschert so dahin, ihr trister Alltag steht in Kontrast zum Summerfeeling des Plots, bis schließlich ein alter Bekannter zurückkehrt, um sich um alte Familienangelegenheiten in der Heimatstadt zu kümmern. Das Auftauchen des geheimnisvollen Viktors bringt nicht nur Erinnerungen an die Vergangenheit hervor, der Unnahbare schwimmt auch noch exakt gleich viele Bahnen im Freibad wie Tilda – Schicksal oder Zufall? Nach und nach nähern sich die beiden an und Tildas wie auch Idas Leben scheinen sich plötzlich aufzuhellen – zuvor nie geahnte Zukunftsperspektiven werden auf einmal ganz realistisch.
Fangen wir mal beim Grundsetting von 22 Bahnen an: Eine junge Studentin, die in einem schwierigen Haushalt mit alleinerziehender, alkoholkranker Mutter wohnt, sich aufopfernd um die kleine Schwester kümmert und sich ihren tristen Nebenjob an der Supermarktkasse mit dem Erraten von Kund*innen anhand der Produkte auf dem Band verschönert. Das fand ich so weit ganz interessant und im ersten Teil des Romans auch atmosphärisch erzählt. Die flirrende Hitze, vereinzelte Sommergewitter, eine melancholisch-gedämpfte Tilda – das alles passt zusammen und erzeugt eine wunderbare Spannung.
Doch dann geht’s über in die zweite Hälfte des Romans, in der mich die Autorin dann leider verloren hat. Da ist zum einen das Narrativ des geheimnisvollen männlichen Retters (wer kennt sie nicht?), der Tilda einen Ausweg aus ihrer Misere bietet, sie zu einem positiver wirkenden Menschen macht und ihr zeigt, was Zuneigung ist. Bei ihm verspürt sie keine Schmetterlinge, sondern – viel krasser – dicke Libellen im Bauch – puh, ganz schön kitschig, jedenfalls für meinen Geschmack und meine Erwartungen nach dem ersten Teil des Romans. Und auch der unnahbare Viktor öffnet sich zusehends, streicht Tilda immer wieder so liebevoll über die Wange, dass ich es kaum ertragen konnte und ihm höchstpersönlich mal die Hand wegschlagen wollte.
Irgendwas ist ab der zweiten Hälfte mit diesem Roman passiert, dass er in meinen Augen von atmosphärisch-intensiv-spannend zu kitschig-schnulzig-abgeschmackt kippt. Auch die Abhängigkeit zwischen den Schwestern erschließt sich mir nicht ganz. Ida wirkt in der Ausgestaltung ihres Charakters auf mich sehr selbständig und eigensinnig. Konträr und fast schon einengend dazu verhält sich die Übermutterrolle von Tilda. Aber vielleicht kann ich das als Einzelkind auch nicht richtig nachempfinden.
Auch stilistisch konnte mich 22 Bahnen leider nicht überzeugen. Es wirkte auf mich so, als ob die Autorin ihre Sprache noch nicht ganz gefunden hätte. Eine Wiederholung hier, eine Ellipse da – alles etwas bausatzartig und nicht wie aus einem Guss. Ich hatte mich so auf dieses Debüt gefreut, vor allem weil es von so vielen anderen so überschwänglich besprochen wurde, weil es sofort auf die Bestsellerliste ging und auch weil ich Caroline Wahl bei einem Blogger*innenevent auf der Leipziger Buchmesse äußerst sympathisch fand.
Aber it is what it is: Für mich reicht’s leider nicht mal zum easy summer read – nur die Supermarktszenen, die fand ich wirklich originell und neu, ein kleiner Trost.
Caroline Wahl: 22 Bahnen | Dumont | 208 Seiten | 22 Euro | Erschienen im April 2023