Katrin Seddig: Nadine

Das Leben als Last: In Nadine erzählt Katrin Seddig den langen Weg zum großen Ausbruch der Hauptfigur, deren stilles Leiden im Patriarchat irgendwann einfach nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

Seddig, Nadine, Cover

Nadine leidet. Würde man sie fragen, würde sie es wohl bestreiten, vielleicht ein wenig kokettieren, ja, aber im Großen und Ganzen hat sie es sich doch gut eingerichtet, nicht? Und doch leidet sie. Sie leidet an ihrer Mittelmäßigkeit im Job, die ihr viele Türen verschlossen hat. Sie leidet daran, dass sie über Jahrzehnte eine Diät hielt – nur einen Apfel zum Mittag, das reicht mir doch –, um schlank zu sein und begehrlich. Leidet aber auch unter den abfälligen Blicken und Kommentaren, die sie bekommt, als sie damit aufhört und zunimmt. Und leidet unter den Kommentaren ihres Vaters, der, nicht erst seit er pflegebedürftig ist, einfach alles auf sie ablädt, was ihm über die Leber läuft.

Aber vor allem leidet sie unter dem Tod ihrer Tochter und wie wenig er ihrer Umwelt auszumachen scheint. Mizzi hat sich umgebracht, ist vor den Zug gesprungen. Einfach war es zwischen den beiden nie, das nicht, aber geliebt hat sie ihre Tochter trotzdem. Bei ihrem Mann, Mizzis Vater, ist sie sich da nicht mehr so sicher, steckt er alles doch irgendwie schweigend weg. Aber sie will nicht schweigen, sich nicht mehr unterordnen, überhaupt erscheint ihr langsam vieles immer sinnloser.

Nadine von Katrin Seddig erzählt die Geschichte einer langsamen, aber überaus stetigen Befreiung. Der Tod der Tochter ist nur der allerletzte Tropfen, der das Fass, das sich in Nadine seit ihrer Jugend immer weiter gefüllt hat, zum Überlaufen bringt. Stück für Stück erobert sie sich immer mehr Bereiche ihres Lebens zurück, in denen sie zuvor gehorcht, sich untergeordnet, lieber den Mund gehalten hat.

Der Roman beschreibt diesen Prozess in einem stetigen Hin und Her von Gegenwartshandlung und Rückblenden. So entsteht über die Länge des Romans das Bild eines Lebens, das nie leicht war, immer wieder angeeckt ist, aber eben auch meist nachgab und sich fügt. Während Nadine in der Gegenwartshandlung immer mehr Fesseln abwirft, erfahren wir nebenbei, wie sie ihr angelegt wurden. Das türmt sich immer weiter auf, bis es zum großen Showdown kommt.

Sprachlich fühlt Nadine tief in seine Figur hinein, ohne dabei lange Exkurse oder Erklärungen zu benötigen. Nadine ist keine Frau allzu vieler Worte, da werden die Gedanken auch nicht zu ausschweifend. Und doch schafft der Roman es, sie als überaus plastische Figur zu zeigen. Den anderen – männlichen – Figuren neben ihr ist das nicht vergönnt, aber das stört hier nicht, denn um die geht es eben auch nur am Rande. Allerdings wäre ein klein wenig mehr Zug im Roman schön gewesen, gerade der Mittelteil wirkt bisweilen etwas ziellos, während Anfang und Ende auf den Punkt sind.

Nadine von Katrin Seddig variiert den »Eine Frau sieht rot«-Stoff auf eine erfrischende, da wenig vorhersehbare Weise, und zeigt mit Nadine eine Frau, die tausendfach so oder so ähnlich um uns herum existiert. Ein Roman, der perfekt in unsere Zeit passt und Hoffnung gibt auch für eine Emanzipation abseits des feministischen Diskurses.

Katrin Seddig: Nadine | Rowohlt Berlin | 304 Seiten | 24 Euro | Erschienen im April 2023

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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