Wie lebt es sich in einem abgeschiedenen Bergdorf mitten in der schönsten Natur? Weniger idyllisch, als man meinen mag, wenn man Julia Josts Debütroman Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht glauben darf.
Ein Umzug steht an, alle wuseln herum, Möbel werden von A nach B getragen, die Nachbarn kommen, um sich zu verabschieden, und wir liegen zusammen mit der Hauptfigur unter einem Lkw. Es ist 1994, und das elfjährige Kind spielt ein letztes Mal Verstecken mit Freundin Luca, Tochter eines ehemals bosnischen Gastarbeiters, der mit seiner Familie bis vor Kurzem im selben Haus gewohnt und gearbeitet hat. Dieses Haus gehörte den Eltern der Ich-Erzählerin, ein Gutshof, eingebettet in die tiefste Bergwelt Kärntens, nicht unweit der Stelle, »wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht«.
Hier ticken die Uhren anders, fernab der großen Städte besinnt man sich in der idyllischen wie beklemmenden Einöde noch strengstens auf die Kirche, Traditionen und die SS-Orden der Väter und Großväter. Aus der Sicherheit des Lkw-Unterschlupfs betrachtet das Kind die Ankommenden und beginnt, von ihnen zu erzählen, von ihren Sorgen, ihren Geheimnissen und ihrer Rolle in der Dorfgemeinschaft. Die kindliche Sicht und ungestüme Erzählweise sorgen dabei für fast schon karikaturartige Porträts und lassen so manches tragische Ereignis seltsam skurril erscheinen. Und doch wird auch die bedrohliche Enge dieser archaischen Welt spürbar.
Dabei verortet sich das Kind auch selbst: Als Mädchen wird es wahrgenommen und merkt doch schnell, dass es lieber Bubenkleidung tragen mag, mit den anderen Jungs im Dorf mithalten will und sich in Luca verliebt. Sehr zum Unmut der Mutter, die es doch so gern in hübsche Kleider stecken und sowieso lieber gestern als morgen dem dörflichen Leben entkommen will und von einem gutbürgerlichen Alltag in der Stadt träumt.
Nun ist für sie eine Tochter, die gar kein Mädchen sein will, sowohl in der erzkonservativen als auch der bürgerlichen Welt leider fehl am Platz. Es geht in Julia Josts Debüt also nicht nur um die eigenbrötlerischen Regeln eines von der Moderne abgeschnittenen Dorfes, sondern auch um das Aufwachsen eines queeren Kindes in eben diesen. Subtil und doch eindringlich gelingt es der Autorin, dies in dem unbedarften Erzählen des Kindes zu vereinen und aus der vermeintlich noch unerfahrenen Sicht zu zeigen, wie sehr sich Stadt- und Landbevölkerung noch immer unterscheiden.
Auch sprachlich ist Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht ein wahrer Genuss. Kein Wort ist zu viel oder zu wenig, und die eingeflochtenen Sätze aus der Kärntner Mundart verleihen dem das gewisse Extra. Für mich ist dieser Roman schon jetzt ein Jahreshighlight!
PS: Mich hat die Atmosphäre im Buch immer wieder stark an einen Film erinnert, den ich 2022 auf der Berlinale gesehen habe: In Drei Winter wird ähnlich beklemmend und skurril zugleich ein abgelegenes Bergdorf in den Schweizer Alpen porträtiert – sehr sehenswert.
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht | Suhrkamp | 231 Seiten | 24 Euro | Erschienen im Februar 2024
[…] Stimme zu Josts Debüt gibt es auch bei Juliane vom Blog Poesierausch und dem Blog Bücheratlas, die sich ebenfalls dem Buch gewidmet […]